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Stuttgarter unikurier Nr. 86 September 2000
Von Faraday bis zu Synchrotron-Röntgenstrahlungs-Experimenten:
Sind Eis-Oberflächen fest oder flüssig ?
 

Ohne die Substanz H2O wäre Leben auf unserem Planeten nicht möglich. Sie ist in Form von Wasserdampf, Wasser oder Eis bei allen biologischen Abläufen maßgeblich beteiligt. Wie wir alle zu wissen glauben, liegt H2O bei Minustemperaturen und Normaldruck als ein kristalliner Festkörper vor, als sogenanntes hexagonales Eis, in dem die H2O-Moleküle ein streng regelmäßiges Kristallgitter aufbauen.

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Vor ziemlich genau 150 Jahren hat sich Michael Faraday mit der Frage beschäftigt, ob Eis vollkommen kristallin ist oder ob die Eisoberfläche möglicherweise auch bei Minustemperaturen eine mikroskopisch dünne flüssige Haut besitzt. 


Struktur von Eis

Während einer der traditionellen „Friday-Evening Lectures“ an der Royal Institution in London machte er den provozierenden Vorschlag, daß die allbekannte Regelation von Eis, das heißt das unmittelbare Anfrieren von zwei Eis-Teilchen bei Berührung (in der Metallurgie auch als „Sintern“ bekannt), durch einen sogenannten Quasiflüssigkeitsfilm an der Eisoberfläche hervorgerufen wird. Faraday hat mit dieser Hypothese, die er damals mit den ihm zur Verfügung stehenden experimentellen Mitteln natürlich nicht beweisen konnte, eine heftige Kontroverse angefacht, die als „Oberflächenschmelzen von Eis“ in die Literatur einging. 

Das Problem des Messens
Der rigorose experimentelle Nachweis einer nichtkristallinen, quasi-flüssigen Schicht auf Eisoberflächen ist verzwickt. Röntgendiffraktion, das Standardverfahren zur Strukturanalyse, ist auf wenigen Nanometer dünnen Oberflächenschichten nicht sensitiv genug. Elektronendiffraktion, eine oberflächensensitive Methode, die in der Tat die obersten Atomlagen eines Festkörpers abtasten könnte, benötigt Ultrahochvakuumbedingungen, die dem Eis gar nicht gut bekommen (in der Nähe von OoC würde es in kürzester Zeit sublimieren). In den letzten Jahren konnte ein röntgenoptischer Kunstgriff realisiert werden, mit dem es gelingt, Röntgendiffraktion extrem oberflächenempfindlich zu machen. Hierzu nutzt man aus, daß der optische Brechungsindex (n) für Röntgenstrahlung in jedem Medium kleiner als der Vakuumbrechungsindex (n0=1) ist. Dadurch entsteht das Phänomen der externen Totalreflexion, bei der eine Röntgenwelle, die flach auf ein Medium trifft (hier auf unseren Eiskristall), ins Vakuum totalreflektiert wird. In einer dünnen Oberflächenschicht des Mediums entsteht dabei eine exponentiell quergedämpfte („evaneszente“) Röntgenwelle, die nur wenige Nanometer ins Medium eindringt und für oberflächensensitive Strukturanalysen genutzt werden kann.


Bild ESRF (Grenoble)

Der Einfallswinkel, bei dem sich diese evaneszenten Röntgenwellen in den ersten Eisoberflächenschichten ausbilden, mißt nur wenige Milliradian (1mrad = 0.05o), daher muß der einfallende monochromatische Röntgenstrahl sehr stark kollimiert werden. Da bei Standard-Röntgenquellen (Röntgenanoden) dann kaum noch Intensität übrigbleibt, muß man sich mit der neuartigen Röntgenstrahlung aus den Synchrotronspeicherringen behelfen: In modernen Synchrotronstrahlungs-Anlagen werden Elektronen (oder Positronen) auf hohe Energien (typischerweise mehrere Giga-Elektronenvolt) beschleunigt. Im Laborsystem strahlen derartige ultrarelativistische Elektronenbündel laserartig gebündelte Röntgenstrahlung von hoher Intensität tangential zur Bahn ab. Solche maßgeschneiderten Synchrotron-Röntgenschleudern stehen heute an vielen Ort in der Welt für Röntgenexperimente zur Verfügung, wie beispielsweise am Hamburger Synchrotronstrahlungslabor HASYLAB, an der Europäischen Synchrotronstrahlungsquelle ESRF in Grenoble (siehe Abbildung oben) oder an der amerikanischen Advanced Photon Source in der Nähe von Chicago. Die hohe Brillanz und die damit verbundene Kohärenz, die Zeitstruktur und die definierte Polarisation dieser Röntgenstrahlung wird für festkörperphysikalische und materialwissenschaftliche Experimente gezielt ausgenutzt.

Die Grafik rechts zeigt schematisch den experimentellen Aufbau zur Untersuchung der Struktur von Eisoberflächen in der Nähe der Schmelztemperatur, wie sie vor einiger Zeit am HASYLAB durchgeführt worden ist. Die Röntgendiffraktion mittels evaneszenter Synchrotron-Röntgenstrahlung zeigt nun in der Tat, daß einkristalline Eisoberflächen bei typischerweise -13oC ihre kristalline Struktur verlieren. Bei weiterer Annäherung an den eigentlichen Schmelzpunkt nimmt die Dicke der quasiflüssigen Schicht kontinuierlich zu, bis sie kurz vor dem eigentlichen Schmelzen der Eiskristalle bis zu 50 Nanometer dick werden kann. 
Ein Quasiflüssigkeitsfilm auf Eis, der sich bereits einige Grade unterhalb des Schmelzpunktes ausbildet, hat gravierende Folgen für viele Abläufe in unserer Biosphäre, angefangen vom Chlorhaushalt in der Atmosphäre über die Aufladung von Gewitterwolken bis hin zum Bodenfrost. Ob dieses Oberflächenphänomen zur reduzierten Reibung beim Schlittschuhlauf beiträgt, ist nach wie vor unklar. Jedenfalls ist die störrische Behauptung, daß Schlittschuhlaufen durch druckinduziertes Schmelzen unter der Kufe ermöglicht wird, leider falsch, auch wenn sie in noch so vielen Schulbüchern wiederholt wird.

H. Dosch

KONTAKT
Prof. Dr. Helmut Dosch,
Tel. 0711/685-5255
e-mail: dosch@dxray.mpi-stuttgart.mpg.de 

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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