Als interuniversitärer Studiengang zwischen den Universitäten Stuttgart und Tübingen bildet die Medizintechnik mit breitem Wissen ausgestattete Fachleute aus. Und die finden sogar in einem so vertrauten Bauteil wie dem Drehknopf noch Verbesserungspotenzial.
Wir drehen an Knöpfen, wenn wir den Herd einschalten oder das passende Programm an der Waschmaschine auswählen. Auch in vielen Autos lassen sich Navigationsgerät, Radio und andere Funktionen per Drehregler steuern. Meist bemerken wir dabei gar nicht bewusst, wie die Drehregler uns Informationen vermitteln. Was aber, wenn wir im Alter an taktiler Sensibilität einbüßen, wenn wir also sprichwörtlich das Fingerspitzengefühl verlieren? Gibt es Drehregler, deren Funktionen sich altersgerecht anpassen lassen?Mit diesen Fragen beschäftigt sich Peter Schmid vom Forschungs- und Lehrgebiet Technisches Design am Institut für Konstruktionstechnik und Technisches Design (IKTD) der Universität Stuttgart. Der junge Forscher befasst sich im Rahmen seiner Promotion in einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Untersuchung mit sogenannten haptischen Mensch-Maschine-Schnittstellen. Was kompliziert klingt, sind schlicht und einfach von Hand bedienbare Elemente wie Drehknöpfe, Schieberegler oder Schalter. Und die könnte die Industrie künftig noch präziser und besser für die Bedürfnisse älterer Nutzer gestalten.
Seniorengerechte Gestaltung
„Uns geht es um eine altersgerechte Produktentwicklung“, sagt Peter Schmid. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich ein Drehregler verändern muss, damit er auch alten Menschen die gewünschten Informationen vermittelt. In Drehknöpfen stecken dabei mehr Gestaltungsmöglichkeiten, als auf den ersten Blick zu erwarten. Zum einen können die Entwickler den Drehwinkel verändern, also den Weg von einem Rastpunkt zum nächsten. Zum anderen lässt sich auch der Kraftaufwand zur Überwindung des Rastpunkts anpassen. Die Wahrnehmung dieser Parameter erfolgt rein über den Tastsinn. Um die passiv durch den Drehregler vermittelten Informationen noch zu verfeinern, lassen sich unterschiedliche Drehwinkel und Drehmomente kombinieren.
„Wir wollen den Drehregler mit Informationen ausstatten, damit die Nutzer zum Beispiel einen Menüwechsel im Auto spüren“, erklärt Schmid. Dabei geht es nicht um bloßen Komfort: Wer etwa beim Fahren durch einen unklar codierten Drehregler abgelenkt wird, könnte sich und andere gefährden.Im Haushalt könnten klar codierte Drehregler beispielweise bei nachlassender Sehkraft helfen, Geräte richtig zu bedienen. In seinen Versuchsreihen hat Schmid daher Probanden im Alter zwischen 21 und 82 Jahren eingesetzt. Zunächst testete er das feinmotorische Vermögen seiner Probanden, anschließend sollten sie im Fahrsimulator und an einem Drehknopf auf der Mittelkonsole vorgegebene Werte einstellen. Schmid maß unter anderem, wie sehr diese Aufgaben die Probanden von ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Fahren, ablenkten. „Wir erhielten signifikante Unterschiede hinsichtlich der Stellzeit, der Aufgabenerfüllung, der Spurhaltung und der Präzisionsbewertung zwischen Jung und Alt“, erklärt der Forscher. Daraus kristallisierte sich eine Drehregler-Konfiguration heraus, die über alle Generationen hinweg am besten funktioniert. Bei dieser dreht sich der Knopf zwischen den einzelnen Rasten um 30 Grad, wobei das Überwinden einer Raste einen Kraftaufwand von 0,09 Newtonmeter erfordert.
Wir erhielten signifikante Unterschiede hinsichtlich der Stellzeit, der Aufgabenerfüllung, der Spurhaltung und der Präzisionsbewertung zwischen Jung und Alt.
Peter Schmid, Universität Stuttgart
Finger verlässlicher als Augen
„Wir betreiben hier nicht nur Forschung, sondern haben auch die Anwendung im Blick“, betont Prof. Thomas Maier, Leiter des Forschungs- und Lehrgebiets Technisches Design am IKTD. Ziel des im September 2018 abgeschlossenen Projekts war es, Gestaltungsrichtlinien für altersgerechte Mensch-Maschine-Schnittstellen zu erstellen, damit Unternehmen bei der Produktentwicklung stärker auch die Bedürfnisse älterer Nutzer im Blick haben können. „Wir sind der Meinung, dass Touch-Oberflächen nicht überall das Optimum sind“, sagt Maier. „Die Ablenkung bei der Fahrt ist doch erheblich, weil der Anwender zuerst hinschauen muss, wo das Bedienfeld zu berühren ist.“ Schmid fügt hinzu: „Ältere Menschen sind froh, dass es noch Drehregler gibt und sie bei nachlassender Sehkraft über den Tastsinn unterstützt werden.“ Dennoch – oder gerade deshalb – hoffen die Forscher am IKTD auch auf die Genehmigung eines Anschlussprojekts, in dem sie das Design einer taktilen Touch-Oberfläche erforschen wollen. Diese könnte, so Maier, winzige Impulse an den Finger abgeben und so praktisch eine fühlbare Skala abbilden.
Es mag verwundern, dass diese für so breite praktische Anwendungsbereiche angelegte Forschung ihren Ursprung im Studiengang Medizintechnik hat. Aber, so Prof. Maier: „Es ist schon deshalb Medizintechnik, weil wir sensorische und motorische Einschränkungen berücksichtigen.“ Man verbinde mit Medizintechnik zwar meist Entwicklungen zur Behandlung von Krankheiten oder für die Rehabilitation. Die Drehregler-Entwicklung aber, so Maier, „greift schon ein, bevor schwere Handicaps entstehen“. Diese weit gefächerten Ansätze und Potenziale der Medizintechnik nicht nur zu erkennen, sondern auch in praxisnahe Forschung umzusetzen, sieht Maier als eine der großen Stärken des noch jungen Studiengangs Medizintechnik.
Dass zwei renommierte Universitäten so eng zusammenarbeiten, ist bis heute einzigartig.
Prof. Thomas Maier, Universität Stuttgart
Technik- und Medizinkompetenz
Der Bachelor in Medizintechnik startete 2010. „Er entstand aus der Idee, gemeinsam mit der Universität Tübingen einen interuniversitären Studiengang aufzubauen“, erzählt Thomas Maier, der zu den Begründern des Studiengangs gehört. Der Gedanke dahinter ist die Kombination der medizinischen Kompetenz Tübingens mit der Stuttgarter Technik-kompetenz. Der Ansatz stieß von Beginn an auf viel Gegenliebe: „2010 hatten wir 100 Plätze zu vergeben und 456 Bewerber“, sagt Maier. Heute seien es bis zu 700 Bewerber pro Jahr.
„Studiengänge in Medizintechnik sind in Deutschland nicht selten“, räumt Maier ein, betont aber: „Dass zwei renommierte Universitäten so eng zusammenarbeiten, ist bis heute einzigartig.“ Die Studierenden sind an beiden Hochschulen eingeschrieben und pendeln zwischen den Vorlesungsorten. Seit 2013 gibt es auch den Master
-Studiengang Medizintechnik, der mit 36 Studierenden startete. Mehr als 50 Prozent der heute über 300 Studierenden sind Frauen. Auch zwei Professuren für Optikdesign und Medizingerätekonstruktion wurden seither eingerichtet. Und nicht zu vergessen: Auch die Nachfrage nach den Absolventen war vom Start weg groß. „Die
meisten gehen in die Industrie, dort gibt es eine große Nachfrage nach unseren Absolventen“, so Prof. Maier. Früher hätten die Medizintechnik-Unternehmen oft notgedrungen Maschinenbauer eingestellt und in Richtung Medizin weitergebildet oder aber ausgebildete Mediziner zu Konstrukteuren geschult. Der Studiengang Medizintechnik bringe Fachleute mit breiter Wissensbasis hervor. Peter Schmid gehörte zu den ersten Jahrgängen der Medizintechnik. „Mein Impuls war, Menschen zu helfen, und gleichzeitig bin ich technikbegeistert“, erzählt der Doktorand. Der Fachbereich biete viele Herausforderungen, auch abseits klassischer Medizingeräte für Krankenhäuser und Praxen.
Jens Eber
Wie können Senioren auch mit gesundheitlichen Herausforderungen mobil bleiben und im Notfall dennoch zuverlässig Hilfe holen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das junge Unternehmen AGE-Ing. AGE-Ing. – sprich Ageing, also englisch für Altern – wurde von den Ingenieuren Benedikt Janny und Matti Schwalk initiiert, beide ehemalige akademische Mitarbeiter am IKTD im Forschungsund Lehrgebiet Technisches Design. Sie entwickelten ein sogenanntes Wearable, ein tragbares High-Tech-Produkt in Form einer Kette oder eines Armbands, das sehr einfach zu bedienen ist und mit einer Mischung aus Mobilfunk und GPS für Sicherheit sorgt. Im Gegensatz zu vielen erhältlichen Smartwatches und Notruf-Uhren setzt AGE-Ing. mit seinem Notrufsystem auf möglichst reduzierte und klare Funktionalität, ohne den Nutzer dabei durch die Gestaltung zu stigmatisieren. Der Clou daran: Potenzielle Nutzer waren von Beginn an in die Entwicklung integriert. „Wir haben uns schon als Doktoranden mit nutzerzentrierter Technikgestaltung beschäftigt und ein Probandenkollektiv aufgebaut“, erzählt Benedikt Janny. Etwa 65 Senioren sind in die Gestaltung eingebunden, testen Prototypen und geben wertvolle Rückmeldungen. Weitere Probanden seien jederzeit willkommen, sagt Schwalk. Mit diesem Kollektiv arbeitet das Start-up auch an Projekten wie der Optimierung von Technik für die Bedürfnisse älterer Nutzer, zum Beispiel an der Elektrifizierung von Rollatoren. AGE-Ing. ist die erste Ausgründung aus dem IKTD. Das Unternehmen startete Anfang 2018 mit Anschubhilfe durch ein Forschungsstipendium; die Universität Stuttgart stellt mit Prof. Thomas Maier und Prof. Hansgeorg Binz die Mentoren. Den interdisziplinären Studiengang Medizintechnik werten die beiden Gründer als großes Plus. Als ehemaliger Studiengangs-Manager sagt Janny: „Die Verbindung von Mensch und Technik, von biologischen, medizinischen und technischen Grundlagen ist ein tolles Arbeitsgebiet, und dafür wird man mit breitem Wissen ausgestattet.“ Zusätzlich, so Schwalk und Janny, brauche es auch das Eigenengagement der Studierenden, um angesichts der Breite in detaillierteres Wissen
vorzustoßen.