Kaum ein technisches System entsteht heute noch ohne Computersimulationen. Mit ihrer Hilfe können Entwickler den Erfolg ihrer bisherigen Arbeit schneller beurteilen, als das mit dem Bau von schrittweise verbesserten Prototypen möglich wäre. Kompliziert und langwierig wird es allerdings, wenn eine Simulation gleich mehrere physikalische Eigenschaften berücksichtigen soll. Ein Forscherteam an der Universität Stuttgart nutzt Verfahren der Künstlichen Intelligenz, um solche Multiphysik-Simulationen für elektrotechnische Fragestellungen besser und schneller zu machen.
Dank Simulationen können Unternehmen die Entwicklungszeit neuer Produkte deutlich verringern. Zwar durchläuft das Objekt immer noch die klassischen Phasen der Entwicklung – von Konzept, Entwurf und Detaillierung über Prototypenbau und Erprobung bis hin zur Überarbeitung –, sie sind jedoch kürzer. Mithilfe simulierter Anwendungsszenarien wissen die Entwickler sehr viel früher, wie sich ein Produkt in verschiedenen, womöglich auch extremen Situationen verhält. Solche Simulationen können allerdings nahezu beliebig komplex werden: Das gilt einerseits für den Rechenaufwand, der rasch gewaltig werden kann. Es gilt andererseits auch für die Entwickler, die alle Parameter sehr genau verstehen müssen, damit die Ergebnisse auch tatsächlich die Realität abbilden. „Besonders deutlich wird das bei sogenannten Multiphysik-Simulationen“, sagt Prof. Jens Anders, Leiter des Instituts für Smarte Sensoren (IIS) an der Universität Stuttgart. „Sie berücksichtigen gleichzeitig mehrere Teilgebiete der Physik, etwa das thermische und das mechanische Verhalten eines Systems.“ Bewegt eine Pumpe beispielsweise ihren Kolben, dann erwärmt dieser sich dabei gleichzeitig. So ist auch für das Verhalten eines Elektromotors nicht nur die Form des Magnetfelds wichtig, in dem sich der Rotor dreht, sondern auch die Frage, wie warm der Motor im Betrieb wird. Mehr noch: Zwischen den Teilgebieten bestehen wechselseitige Abhängigkeiten. Bezogen auf den Motor heißt das zum Beispiel, zunehmende elektrische Ströme bedeuten auch mehr Wärme.
Vertrackte Multiphysik
„Für die Verhaltenssimulation eines solchen Motors müssten wir zum Beispiel die Temperatur und das Magnetfeld an vielen Punkten berechnen“, erläutert Anders. „Wäre beliebig viel Rechenleistung verfügbar, ließen sich diese Punkte wie ein engmaschiges Netz über das gesamte Modell des Motors legen.“ Aber da mit Rechenleistung trotz zunehmend besserer Computertechnik auch heute noch gehaushaltet werden muss, gilt es, dieses Netz stets so grobmaschig wie möglich zu wählen. „Nur so genau wie nötig, lautet die Regel beim Simulieren“, sagt Anders. Es ist ein ständiger Kompromiss zwischen Rechengeschwindigkeit und Genauigkeit – bei dem allerdings kein wichtiger physikalischer Effekt verpasst werden darf.
So wissen die Expertinnen und Experten, dass sie das Netz für die Berechnung des Magnetfelds besonders entlang von Ecken und Kanten sehr engmaschig wählen müssen. Dagegen dürfen die Berechnungspunkte im Metallkörper des Motors eher weiter auseinander liegen. Anders ist es bei der Temperaturberechnung: Ecken und Kanten oder der Luftspalt des Motors sind hier eher uninteressant; dagegen leitet der Metallkörper einen Großteil der entstehenden Wärme ab, sodass es für Berechnungen dazu wiederum eines engmaschigen Netzes bedarf. „Für jedes physikalische Teilgebiet braucht es unterschiedliche Netze, die jedoch so aneinander anpasst werden müssen, dass die Ergebnisse insgesamt einen Sinn ergeben“, sagt Anders.
Aufgrund dieser komplexen Ausgangslage schöpfen Wissenschaft und Industrie das Potenzial von Multiphysik- Simulationen bislang nicht voll aus. Für das IIS und das Institut für Automatisierungstechnik und Softwaresysteme (IAS) der Universität Stuttgart war das bereits vor mehreren Jahren der Anlass, ein gemeinsames, von der Deutschen Forschungsgemeinschat (DFG) gefördertes Forschungsprojekt zu starten. „Die meisten Entwicklungsingenieure befassen sich nicht nur mit Multiphysik-Simulationen, sondern haben auch viele andere Aufgaben“, sagt IAS-Leiter Prof. Michael Weyrich. So kann es passieren, dass sie komplexe Multiphysik-Simulationen nicht richtig aufsetzten, viele Anläufe benötigten oder gar externe Hilfe von Spezialisten in Anspruch nehmen müssten. „Das kostet mindestens Zeit und Geld und führt im Extremfall sogar dazu, dass man die Finger lieber ganz von Multiphysik-Simulationen lässt“, so Weyrich.
Diese Hürde wollen die Forschenden der beiden Institute aus der Welt schaffen. „Für eine Multiphysik- Simulation von elektrotechnischen Systemen haben wir dem Nutzer einen intelligenten Assistenten zur Seite gestellt. Dieser erledigt verschiedene Arbeiten eigenständig, sodass der Nutzer nicht mehr ganz so tief mit der Thematik vertraut sein muss“, erklärt Weyrich. „Ausgehend von bereits vorliegenden Simulationsergebnissen, die physikalisch sinnvoll sind, empfiehlt der Assistent Lösungsansätze für bestehende Simulationsprobleme.“ Dazu erstellten die Projektbeteiligten eine Datenbank, in der der Assistent für ein zu lösendes Teilproblem einer Simulation nach ähnlichen bekannten Fällen suchen kann. „Findet er eine entsprechende Übereinstimmung, macht er dem Nutzer davon ausgehend Lösungsvorschläge für Teilprobleme der neuen Simulation“, so Weyrich.
Intelligente Assistenz für Experten
Tatsächlich ist dieser Assistent in Aufbau und Arbeitsweise viel komplexer als hier beschrieben. Er koordiniert nämlich wiederum selbst mehrere nachgeordnete Assistenten, die jeweils für eine Teilaufgabe wie Mechanik oder Temperatur verantwortlich sind. Darüber hinaus gibt es immer verschiedene Optionen, über die die nachgeordneten Assistenten selbst entscheiden können, um jeweils den ressourcenschonendsten Assistenten auszuwählen, mit dem sich das Ziel erreichen lässt.
Trainiert haben die Projektbeteiligten das Assistenzsystem mit maschinellen Lernverfahren, prototypisch ausgeführt an der Simulation eines Mikrowellenherds, in dem ein Gefäß mit Wasser erwärmt werden soll. Anhand der gut hundert verfügbaren Lösungsverfahren spielte das Forscherteam dazu verschiedene Fälle durch, um so die beste Lösungsstrategie für die Simulation zu finden. Die Rechenzeiten verkürzten sich dadurch um das bis zu Vierfache. Um die Rechenzeit zu optimieren, kann die Software selbstständig die Rechenlast einer Simulation auf verschiedene Computer verteilen, auch dann, wenn einer ausfällt. Außerdem ist der Assistent in der Lage, die Schrittweite der Netze der physikalischen Teilbereiche zu optimieren.
„Damit ein Entwicklungsingenieur einen solchen Assistenten akzeptiert, darf das System natürlich nur die jeweils passenden Altfälle in seiner Datenbank identifizieren“, sagt Weyrich. Um dies zu erreichen, definierten die Projektbeteiligten Metriken: mathematische Maße dafür, wie gut die Altfälle in der Datenbank zur aktuellen Problemstellung passen. „Dann haben wir den Algorithmus trainiert, indem wir jeweils berücksichtigen, wie gut ein vorgeschlagener Fall zum aktuellen Problem passt“, erklärt Weyrich. Ermutigt durch die Ergebnisse wollen Anders und Weyrich mit ihren Teams nun in einem Transferprojekt anhand von Fallbeispielen mit Realdaten zeigen, dass intelligente Assistenten beim Lösen von Multiphysik-Simulationen hilfreich sind. Warnmeldungen, um den Nutzer auf kritische Stellen in der Simulation hinzuweisen, und eine automatische Festlegung der Netzweiten könnten daraus als erster praktischer Nutzen hervorgehen. Was letztlich zu schneller verfügbaren, zuverlässigeren Ergebnissen führen könnte. Das Projekt setzen die beiden Institute der Universität Stuttgart mit Comsol um, einem schwedischen Anbieter von Software für die Multiphysik- Simulation. Dieses Jahr soll es losgehen.
Welche Tragweite bessere Multiphysik-Simulationen haben, verdeutlicht Jens Anders an einem einfachen Zahlenspiel: „Angenommen, für ein zu entwickelndes Produkt müssen 30 Varianten simuliert werden. Wenn Sie nur zwei Simulationen pro Woche schaffen, dann können Sie in den benötigten 15 Wochen auch einen physischen Prototyp bauen und ihn untersuchen. Wenn Sie dagegen 15 Simulationen pro Woche schaffen, können Sie sich den Prototypenbau sparen, weil die Simulationen nach zwei Wochen fertig sind.“ Dann könnte der Entwicklungsprozess nicht nur insgesamt kürzer werden, vielmehr würden einzelne Schritte komplett verschwinden, was Zeit und Kosten spart. „Doch damit das nicht nur bei den Unternehmen gelingt, die Multiphysik-Spezialisten in der Entwicklungsabteilung haben“, sagt Weyrich, „müssen Konzepte wie unser intelligenter Assistent den Weg in die industrielle Praxis finden.“
Michael Vogel
Prof. Dr. Jens Anders
Leiter des Instituts für Intelligente Sensorik und Theoretische Elektrotechnik (IIS), Universität Stuttgart
Prof. Dr. Michael Weyrich
Leiter des Instituts für Automatisierungstechnik und Softwaresysteme (IAS), Universität Stuttgart