Der vergessene Ingenieur

Romanisten und Germanisten untersuchen die Bedeutung der Technik bei Bühnenstücken

Die Entwicklung von Bühnentechnik im 17. Jahrhundert prägte und beeinflusste das Theater, sowie die heutige akademische Interpretation von Theaterstücken.

Will man ein Theaterstück interpretieren, ist nicht nur dessen Text bedeutsam, sondern auch die Art, wie es seinerzeit auf der Bühne gezeigt wurde. Letzteres für die Klassiker des französischen Theaters herauszufinden, gestaltet sich nicht ganz einfach. Genau das haben sich aber Literaturwissenschaftlerinnen der Universität Stuttgart in einem Projekt mit Master-Studierenden vorgenommen.

Der französische König Ludwig der XIV. tanzte höchstselbst im Sonnenkostüm die Schlussszene des "Ballet royal de la Nuit".

In der Dunkelheit lauern Gefahren und Ausschweifungen, erst die aufgehende Sonne bringt den Tag und die Ordnung zurück: Im „Ballet royal de la Nuit“, das im Jahr 1653 uraufgeführt wurde, kämpfen Tag und Nacht symbolisch miteinander. Die Schlussszene des Stücks hat Theatergeschichte geschrieben, denn der damalige französische König Ludwig XIV. höchstselbst tanzte im Sonnenkostüm den Sieg über die Finsternis. Das brachte ihm den Beinamen „Sonnenkönig“ ein. Für Prof. Kirsten Dickhaut, Leiterin der Abteilung Romanische Literaturen I, und Prof. Sandra Richter, Leiterin der Abteilung Neuere Deutsche Literatur I, vom Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart, zeigt diese Szene außerdem, wie die Technik die Aufführungen des klassischen französischen Theaters im 17. Jahrhundert prägte. Hatte der italienische Ingenieur Giacomo Torelli doch eigens eine Maschine konstruiert, die den König inmitten von Feuerwerk und einem Lichtstrahl auf die Bühne fuhr. Den technischen Aufwand, der für solche Inszenierungen betrieben wurde, untersuchten die Wissenschaftlerinnen mit ihren Master-Studierenden im interdisziplinären Seminar „Drama und Dramenpoetik der Frühen Neuzeit (Frankreich und Deutschland)“.

Um die Stücke zu bewerten, musste die Gruppe sie zunächst in den historischen Kontext übertragen. Denn das Theater von damals ist mit dem heutigen nicht zu vergleichen, wie Dickhaut erklärt: „In der Regel organisierte ein Prinz oder ein König ein höfisches Fest – eine Siegesfeier, Taufe oder Hochzeit. Und diese mehrere Tage dauernden Feste wurden nachmittags und abends mit Ballett oder Theater als höfische Vergnügungen bespielt. Das heißt, dass der Aufwand für die Inszenierungen sehr hoch war.“ Zudem geriet das Theater in jener Epoche in Konkurrenz zur neu entstandenen Oper. „Aufwendige Technik stand bei Theaterstücken so sehr im Fokus, dass man sie auch Maschinentheater nennt“, sagt Dickhaut.

Festberichte zeigen die Bühnentechnik

Informationen dazu erhielten die Forscherinnen und Forscher unter anderem aus zeitgenössischen Festberichten. Sie gingen ins kleinste Detail – bis hin zur Anzahl der Kerzen auf der Bühne – und waren mit zum Teil aufwendig kolorierten Grafiken versehen. „Aus diesen Grafiken können wir Rückschlüsse ziehen, wie das Bühnenbild ausgesehen hat und welche Bewegungen durch die Maschinen auf der Bühne zu sehen waren“, so Dickhaut. Es gab Feuer und Wasser sowie bewegliche Kerzenleuchter, die während der Aufführung neu bestückt werden konnten. Schiffe fuhren auf die Bühne und verwandelten sich unter Feuerwerk in einen Drachen. „Bei den technischen Möglichkeiten dieser Zeit war es herausragend, was die Ingenieure gestaltet, konstruiert und inszeniert haben“, sagt die Romanistin. Gleichzeitig musste der König als Veranstalter immer sichtbar sein und glänzen. Das Internationale Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart hat das Projekt aufgrund seiner deutsch-französischen Ausrichtung gefördert. So konnten drei internationale Experten im Seminar vortragen, was sie zur Theatertechnik erforscht hatten. Zudem wird an der Universität eine virtuelle Ausstellung zur Theater- Ingenieurskunst entstehen. „Dazu sollte das forschungsorientierte Master-Seminar ein erster Schritt sein“, erklärt Dickhaut.

Französische Werke für deutsches Publikum umgeschrieben

Neben der Theatertechnik untersuchte die Gruppe, wie sich die zum Teil bis heute gespielten Werke aus Frankreich auf die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts auswirkten. „Übersetzungen der französischen Stücke machten an den Höfen in Deutschland sehr schnell Furore“, sagt Dickhaut. „In der Germanistik wurden diese aber bislang wenig rezipiert.“ Die Master-Studierenden des Projekts verglichen jeweils ein französisches Original mit seinen deutschen Übersetzungen. „Das war wichtig, um den Zusammenhang zu verstehen und zu sehen, welchen großen Einfluss das französische Theater in Deutschland hatte“, sagt Felicitas Mössner. Die wissenschaftliche Hilfskraft hatte die historischen Texte und Übersetzungen in Bibliotheken und Archiven identifiziert. Rechts des Rheins wurden die Stücke oft verändert, beispielsweise für ein bürgerliches Umfeld umgeschrieben. Denn anders als in Versailles konnte man in Heidelberg, Freiburg oder Hamburg das Theater als zahlender Gast besuchen, und die Premieren waren nicht der höfischen Gesellschaft vorbehalten. „Ganz frappierend sichtbar wird in den Insznierungen der konfessionelle Transfer vom Katholischen zum Protestantischen“, sagt Dickhaut. „Das hat dann wiederum Konsequenzen für die Anerkennung des Überirdischen oder von Schicksalsvorstellungen.“ So hat das protestantische Umfeld das Überirdische als unwahrscheinlich eingeordnet – und konsequent weggekürzt. Was also als wahrscheinlich galt und was nicht, musste die Forschergruppe zunächst im jeweiligen Kontext einordnen. „Für Zuschauer in der Antike war es wahrscheinlich, dass Götter auf die Bühne geflogen kamen, so wie es für die Menschen in der frühen Neuzeit sehr glaubhaft war, dass ein Engel auf der Bühne fliegt“, sagt Dickhaut. „Für uns heute wäre es zumindest fragwürdig.“

"Deus ex machina": Im Zeitalter des Barock stand die Technik bei Theaterstücken derart im Fokus, dass sie auch Maschinentheater genannt wurden.

Nicht von ungefähr gipfelt die vergessene Ingenieurskunst der Theaterbühnen denn auch im Begriff des „Deus ex Machina“, also dem Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie. „Hier geht es nicht um die Tante aus Amerika, die einem Theaterstück die Wendung gibt, sondern um das überraschende Eingreifen einer Figur, die dank großartiger Technik auf der Bühne einschweben konnte“, erklärt Dickhaut. So hat der vergessene Ingenieur am Ende doch noch eine tragende Rolle. Denn der heimliche Gott des Theaters ist der, der ihn erscheinen lassen kann. Daniel Völpel

Prof. Dr. Kirsten Dickhaut, Romanische Literaturen I - Galloromanistik am Institut für Literaturwissenschaft (ILW), Tel.: +49 711/685-83110, E-Mail                  

Prof. Dr. Sandra Richter, Neuere Deutsche Literatur I und II am Institut für Literaturwissenschaft (ILW), Tel.: +49 711/685-83065, E-Mail

Das Projekt: Theatertechnik - Theaterkunst

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