Ein virtueller Vortrag mit dem Titel Verantwortung

Was bedeutet Verantwortung für Architekt*innen?

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart

Die Ringvorlesung „Architektur und Verantwortung“ an der Universität Stuttgart beleuchtet Architektur und Stadtplanung umfassend. Die Forschenden suchen dabei nach Antworten auf die Frage, welche Handlungsmaxime ihre Profession zukünftig leiten sollte.

Am Anfang der Vorlesungsreihe „Architektur und Verantwortung“ stand ein Buch, genauer – zahlreiche Exemplare eines Buches: „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt. Denn mit diesem Werk über die Ethik der Wissenschaft und der These, dass sich einmal Entdecktes nicht rückgängig machen lässt, beteiligte sich die Universität Stuttgart im Jahr 2019 an der Aktion „Eine Uni – ein Buch“. Deren Ziel ist es, deutschlandweit an Hochschulen möglichst viele Menschen zu einem Thema ins Gespräch zu bringen.

An der Stuttgarter Fakultät I für Architektur und Stadtplanung gelang dies im Winter 2019/20 auf besondere Art und Weise: Es entstand eine ganze Vortragsreihe, die im Wintersemester 2020/21 fortgeführt wurde. Darin gingen die beteiligten Professorinnen und Professoren der Frage nach, was Verantwortung für sie in ihrem Fachgebiet bedeutet. Die Landschaftsplanerin Prof. Leonie Fischer sprach beispielsweise darüber, ob bei städtischen Grünflächen Mensch oder Natur Vorrang haben sollten. Prof. Laura Calbet i Elias, Leiterin des Städte­bau-Instituts, thematisierte die Verantwortung in der Wohnungsbaupolitik. 

[Fotos: Dietmar Spolert, o.A., Universität Stuttgart/IDG/Pirmin Wollensak, Brigitta Stöckl, MyrzikJarisch, o.A.]

„Als wir erfuhren, dass die Universität den Zuschlag für die Aktion erhalten hatte, schlug meine Kollegin am Städtebau-Institut, Prof. Astrid Ley vor, das in dem Buch aufgeworfene Dilemma der Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ihre Erfindungen auch zum Thema der Ringvorlesung zu machen“, berichtet Prof. Christine Hannemann, Leiterin des Fachgebiets Architektur- und Wohnsoziologie am Institut für Wohnen und Entwerfen. Sie übernahm die 2019 neu geschaffene wissenschaftliche Leitung der Ringvorlesung.

Das Kolloquium selbst gibt es bereits einige Jahre länger. Ursprünglich stellten dort die Professorinnen und Professoren ihre Fächer vor. „Architektur und Verantwortung“ stieß im Winter­semester 2019/20 auf so große und positive Resonanz, dass die Fakultät das Thema diesen Winter fortführte. Lange habe den Studierenden der interdisziplinäre Austausch gefehlt, berichtet die Architekturstudentin Vera Krimmer. „Die Ringvorlesung dekliniert nun ein Thema aus allen Blickwinkeln durch. Das gab es in dieser Form bisher nicht.“

Schwerpunkt Klimawandel

Mit drei Meinungen prallen Dürrenmatts Physiker aufeinander. Der erste vertritt die Theorie: Forschung ist Forschung. Für die Konsequenzen trägt die Wissenschaft keine Verantwortung, sondern die Gesellschaft. Der zweite sagt: Forschung steht immer im Dienst einer Macht. Und der dritte verweigert sich der Forschung, will Erkenntnisse zurücknehmen und entzieht sich der Verantwortung durch Flucht in die Irrenanstalt. „Auf jeden Fall tragen Architektinnen und Architekten, Stadtplanerinnen und Stadtplaner immer Verantwortung“, betont hingegen die Forscherin Hannemann. Diese nähmen ihre Kolleginnen und Kollegen durch die Resonanz auf die Vortragsreihe nun noch einmal anders wahr, berichtet die Architektursoziologin: „Bei den Diskussionen zu jedem Vortrag gab es einen klaren Schwerpunkt: den Klimawandel. Das bewegt die Studierenden sehr. Denn gerade dort stehen Architektinnen und Architekten, Stadtplanerinnen und Stadtplaner besonders in der Verantwortung.“

Die große Kunst wird sein, bezahlbaren Wohnbau mit dem Klimaschutz zu kombinieren – wozu ich noch keine Forschung und Studien sehe.

Professorin Christine Hannemann
Vera Krimmer
Architekturstudentin Vera Krimmer

So sieht es auch Krimmer: „In der Grundlehre kommt das Klimathema bisher nur sehr peripher vor. Im Hauptstudium kann man sich das entsprechend legen, aber die Auswahl ist sehr begrenzt und die Seminare sind überlaufen“, meint die Studentin. Gerade zu Fragen des verantwortungsvollen Umgangs mit Baumaterialien und zum architektonischen Auftrag hätten die Studierenden einen großen Informations- und Diskussionsbedarf, während der Städtebau das Thema bereits relativ breit abdecke.

„Ich meine, dass eine solche Ringvorlesung auch eine kathartische Funktion hat, Lücken deutlich zu machen und diese kreativ zu bespielen“, sagt Hannemann. „Wobei wir nicht nur das Klimathema betrachten müssen, sondern auch das soziale: bezahlbarer Wohnraum. Und die große Kunst wird sein, bezahlbaren Wohnbau mit dem Klimaschutz zu kombinieren – wozu ich noch keine Forschung und Studien sehe.“ Noch immer sei der Beruf des Architekten neubaufixiert. Rein von der Quadratmeterzahl gebe es aber genügend bebauten Raum für alle. „Die Bauform der Zukunft ist die Bestandsertüchtigung“, ist sich Hannemann daher sicher. „Diese Aufgaben stehen an und wir nutzen die Ringvorlesung dazu, mit dem Fachkollegium zu diskutieren, wie wir das initiieren können.“

Ich sehe, dass eine neue Generation von Studierenden mit einer sozialen Haltung da ist.

Professorin Christine Hannemann

Dass die Studierenden diese Themen mit Nachdruck einfordern, bestätigen Professorin wie Studentin: „Ich sehe, dass eine neue Generation von Studierenden mit einer sozialen Haltung da ist“, sagt Hannemann. „Ich meine auch zu beobachten, dass immer mehr junge Leute Architektur nicht wegen des künstlerischen Anspruchs studieren, sondern aus dem Willen heraus, Gesellschaft baulich-räumlich zu gestalten.“ Nach einer neoliberalen Phase träten nun ethisch-soziale Fragen wieder stärker in den Vordergrund. „Das ‚Handbuch Verantwortung‘, die erste wissenschaftliche, übergreifende Darstellung, ist 2017 erschienen. Das zeigt, es wird nun versucht, den Stand zusammenzuführen.“

Zwei Personen arbeiten an Laptops.
Studierende nehmen digital an der Vorlesungsreihe teil.

Und Krimmer stellt fest: „Ich nehme wahr, dass die Generation der nach 1995 Geborenen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder stärker bewusst ist, als wir älteren Studierenden das waren. Wir waren eher auf die Optimierung des eigenen Lebenslaufs bedacht oder mussten uns vielleicht auch nicht mit politischen Themen derart tief beschäftigen.“ Doch nun drängten sich politische Fragen in den Vordergrund – etwa die, wie man den CO2-intensiven Beton durch Holz ersetzen könne. „Das Problem sind die DIN-Normen und die Bauämter, die nicht darauf eingestellt sind“, sagt Krimmer und wird doch politisch: „Eigentlich soll es der Markt regeln, aber dann wird wie beim Verbrennungsmotor künstlich eine alte Bauform am Leben erhalten.“

Wie man besser bauen kann, schilderte auch Prof. Markus Allmann am Schluss seines Vortrags „Kreativer Entwurfsprozess und gesellschaftliche Verantwortung“ in der Ringvorlesung: Sein Büro errichte in München derzeit eine Schule für 1000 junge Leute komplett CO2-neutral in Holzbauweise. „Wir müssen uns verpflichten, sozial und umweltgerecht zu bauen“, forderte er als Grundregel. Denn eine ähnliche Diskreditierung wie die des Automobils zeichne sich für die Architektur bereits ab. „Umso mehr rückt in den Fokus, wie der Nutzen eines Gebäudes dessen Schaden überwiegen kann und vielleicht sogar muss.“

Text: Daniel Völpel

Professorin Christine Hannemann, Leitung des Fachgebiets Architektur- und Wohnsoziologie, Institut Wohnen und Entwerfen (IWE), Universität Stuttgart, Tel.: +49 711 685-84203, E-Mail

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