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Ein klimaneutraler, nachhaltiger Campus ist die Vision, die alle Beteiligten des Reallabors „CampUS hoch i“ eint. Um sie zu erreichen, geht das interdisziplinäre Team aus den Bereichen Ingenieurwissenschaften, Soziologie und Nachhaltigkeitsmanagement neue Wege. Unter Koordination des Instituts für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart sollen konkrete Vorschläge entstehen, wie universitätseigene Gebäude auf dem Campus Vaihingen klimaneutral, intelligent und kostengünstig zu sanieren und zu gestalten sind – und dies gemeinsam mit den Menschen, die hier studieren, lehren, forschen und arbeiten.
„Fünfzig Prozent des Energieverbrauchs hierzulande gehen in die Gebäudewärme und die Erzeugung von Warmwasser. Und Gebäude verursachen deutschlandweit heute fast die Hälfte der Emissionen“, sagt IER-Leiter Prof. Kai Hufendiek. Am Campus Vaihingen seien es sogar mehr als 75 Prozent der Treibhausgasemissionen. Möglichkeiten, um im Gebäudesektor mehr Nachhaltigkeit und Energieeffizienz zu verankern, gebe es viele: von der Nutzung von Abwärme und dem Einbau von Solaranlagen und Wärmepumpen über das smarte Gebäudemanagement bis hin zu innovativen Baumaterialien. „Im Neubau können wir das schon gut bewerkstelligen. Die Bestandsbauten sind die große Herausforderung, aber sie bieten auch große Potenziale“, prognostiziert der Experte für Energiesysteme.
Alle Beteiligten in den Gestaltungsprozess einbeziehen
Um bestehende Gebäude energetisch zu ertüchtigen, sind neue Technologien das eine. Nachhaltig werden diese jedoch nur, wenn man die Nutzerinnen und Nutzer von Anfang an in den Gestaltungsprozess einbindet. „Dieser Gedanke hat das Reallabor von Anfang an getragen“, sagt Hufendieks Projektpartnerin Prof. Cordula Kropp. „Wir nehmen die Perspektive der Menschen als Ausgangspunkt und fragen konkret, was sie brauchen, damit wir ihre Raumbedarfe erfüllen und zugleich den CO2-Ausstoß der Gebäude minimieren können“, erklärt die Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart.
Dieser Ansatz ist typisch für die Idee der Reallabore. Sie stehen für eine transdisziplinäre und transformative Forschung, das heißt, sie verlassen den Wissenschaftskosmos und holen die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit ab, um gemeinsam zu experimentieren und drängende Zukunftsthemen zu bearbeiten. Das Land Baden-Württemberg treibt das Format unter dem Motto „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ intensiv voran und gehört mit 14 Reallaboren zwischen 2015 und 2020 zu den Pionieren der Reallaborforschung in Deutschland. Für Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sind die Reallabore „made in BW“ ein Erfolgsmodell.
Einblicke in das Reallabor Schienenfahrzeuge
Im Reallabor Schienenfahrzeuge möchten Professor Ullrich Martin und sein Team Schäden an viel befahrenen und damit sehr belasteten Gleisen frühzeitig erkennen. Am Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen (IEV) der Universität Stuttgart haben sie dafür ein Fahrweg-Fahrzeug-Modell errichtet. Das Projekt erfolgt in enger Kooperation mit dem Institut für Ingenieurgeodäsie (IIGS).
Universität Stuttgart setzt früh auf Reallabore
Von Anfang an dabei war auch die Universität Stuttgart mit zwei Labs, welche die Veränderungs- und Transformationsprozesse in der Stadt adressiert haben. So hat das „Future City Lab_Universität Stuttgart – Reallabor für nachhaltige Mobilität“ verschiedene Facetten der Mobilitätsentwicklung im urbanen Raum in den Blick genommen, das Reallabor „Stadt:quartiere 4.0“ hat den Fokus auf innovative digitale Werkzeuge für die Stadtplanung gelegt. Bei „CampUS hoch i“ steht nun die Bekämpfung des Klimawandels im Gebäudesektor im Fokus.
Wie hier die unterschiedlichen Akteure und Akteurinnen zusammenwirken, verdeutlicht gut der gelbe Klinkerbau, in dem das Institut für Werkstoffe und Bauwesen (IWB) der Universität Stuttgart untergebracht ist. 1959 errichtet, steht jetzt besonders mit Blick auf den Brandschutz und die Stromversorgung eine umfassende Sanierung an. Um den Erfolg der Baumaßnahmen sicherzustellen, sollen in Planung und Umsetzung die realen Nutzungsbedingungen berücksichtigt werden. Deswegen hat ZIRIUS nicht nur Studierende und Mitarbeitende des IWB nach ihren Erwartungen an das Gebäude befragt, sondern auch ermittelt, wie diese Erwartungen mit den Bedarfen von Verwaltung und Planungsbehörden in Einklang gebracht werden können.
Vom ökologischen Beton bis zu intelligenten Sensoren
Was beim Bauen der Zukunft möglich ist, erforschen die Projektpartner*innen aus verschiedenen Perspektiven. So arbeiten IWB-Leiter Prof. Harald Garrecht und die beiden Promovendinnen Christien Hein und Lisa Hoss unter anderem mit ökologischen Betonen. Sie sollen in Leichtbauten mit möglichst geringem Materialeinsatz für Tragfähigkeit, Dämmung und ein angenehmes Raumklima sorgen. Im Rahmen des Labs ist zum Beispiel eine modulare „Raumzelle“ geplant, die die Wirkung der neuen Baustoffe erlebbar machen soll.
Wie wichtig intelligente Technologien für eine klimaneutrale Energieversorgung sind, sieht man auch im Institut für Gebäudeenergetik Thermotechnik und Energiespeicherung (IGTE). Hier führt Wissenschaftler Sven Stark ein in die Welt der Sensorsysteme, die im Gebäude zum Beispiel detektieren, ob Türen und Fenster geöffnet oder geschlossen sind, das Raumklima analysieren oder auch aufzeichnen können, wie viele Menschen sich wo in einem Raum aufhalten. So können Energiebedarf und -bereitstellung optimal gesteuert werden.
Wir bringen Technologie- und Nutzerwelten zusammen, und am Ende verändern sich beide.
Professorin Cordula Kropp
„Der Sensorik sind fast keine Grenzen gesetzt“, sagt Stark. Aber wie gehen die Menschen damit um? Fühlen sie sich überfordert oder überwacht? Fokusgruppenanalysen, die auch die Ideen und bisherigen Beiträge der Campusangehörigen zur ökologischen Transformation mit einbeziehen, sollen solche Fragen klären. „Wir bringen Technologie- und Nutzerwelten zusammen, und am Ende verändern sich beide“, sagt Soziologin Cordula Kropp.
Einen dauerhaften Wandel anstoßen
Experimentierräume in realen Kontexten schaffen und hiermit einen dauerhaften Wandel anstoßen: Das hat sich auch Prof. Martina Baum zum Ziel gesetzt. Mit der Reallaborforschung hat die Leiterin des Städtebau-Instituts der Universität Stuttgart schon viele Erfahrungen gemacht.
Zum Beispiel im Rahmen des schon erwähnten Labs für nachhaltige Mobilitätskultur. Hier haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Stuttgarter Vereinen und Institutionen, der Stadtverwaltung und Bürgerschaft zusammengetan und gemeinsam nach Ideen und Konzepten gesucht, die helfen, den Menschen in einer autogerechten Stadt Räume zurückzugeben oder auch neue zu öffnen. Große Realexperimente und viele kleinere Projekte haben hier stattgefunden – auch mit viel Engagement der Studierenden. Manche dieser „Interventionen auf Zeit“ werden jetzt von der Zivilgesellschaft fortgeführt oder fließen ein in die Stadtplanung. „Man hat gespürt, dass die Bewusstseinsbildung, die wir mit diesem Lab angestoßen haben, auch Früchte getragen hat“, zieht Baum eine positive Bilanz.
Ob ein Reallabor nachhaltig Erfolg hat, hängt nach Beobachtung der Expertin am Ende immer von den individuellen Rahmenbedingungen und handelnden Personen ab. Entscheidend sei vor allem, viel zu kommunizieren, aber auch die Prozesse von Wissenschaftsbetrieb, Gesellschaft und Verwaltung zu synchronisieren und nicht zuletzt auch ein Scheitern zuzulassen. So ist an der Universität Stuttgart schon viel Know-how zur Planung und Umsetzung von Reallaboren entstanden.
Dieses Wissen wollen Forschende des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung (IZKT) im Rahmen des Projektes „Wissenstransfer reloaded. Die Stuttgarter Reallaborforschung“ nun auswerten und „lebendig halten“. Analysiert wird nicht nur die Literatur, die rund um die Labs entstanden ist, berücksichtigt werden auch die „Learnings“ aus den Workshops. Im Fokus steht nun der Aufbau einer Website, die das Wissen zu den Reallaboren bündeln und zielgruppenspezifisch aufbereiten soll – zum Beispiel über Good Practices für Realexperimente. „Wir wollen die Erfolge zeigen, aber auch die Schwierigkeiten“, sagt Natalia Pfau, wissenschaftliche Koordinatorin am IZKT. Ein wichtiges Element wird ein „Methodenkoffer“ sein, der die Vorgehensweisen der einzelnen Fachdisziplinen zusammenführt. „Denn es geht immer auch um Handwerk“, erklärt sie.
Keine Lösungen für den Elfenbeinturm
Was aber geschieht, wenn das Projekt zu Ende ist, die Präsentationen vorbei und die Berichte geschrieben sind? „Dann braucht man Ankerpunkte in der Gesellschaft – Personengruppen und Institutionen, die sich der Sache langfristig annehmen“, sagt Stadtplanerin Baum. Im Rahmen von „CampUS hoch i“ jedenfalls, betont Energiesystemexperte Kai Hufendiek, wolle man Lösungen entwickeln, die nicht für den Elfenbeinturm gemacht würden, sondern für eine breite und langfristige Anwendung taugten, „Wir wollen keine High-End-Mustergebäude bauen, sondern etwas Realistisches schaffen, das auch bezahlbar ist.“
Und die Gesellschaft soll daran teilhaben. Cordula Kropp und ihr Team, Birgit Mack, Karolin Tampe-Mai und Michael Ruddat, haben deswegen ein ganz besonderes Realexperiment kreiert. Eine Bauhütte soll künftig auf dem Campus Vaihingen permanent erlebbar machen, was nachhaltiges und klimaneutrales Bauen in der Praxis bedeutet. „Damit knüpfen wir an eine uralte kulturelle Tradition an – die Dombauhütten“, erklärt Kropp. Handwerker konnten hier schon im Mittelalter innovative Technologien und neue Materialien in Augenschein nehmen und erproben. Und wie die Reallabore schufen sie neues Wissen für die Anwendung direkt aus der Praxis.
Text: Jutta Witte
Aktive Reallabore der Universität Stuttgart
[Fotos: Universität Stuttgart, Grosskraftwerk Mannheim AG, Stadt Reutlingen, Universität Stuttgart, Universität Stuttgart/Sven Cichowicz]
Abgeschlossene Reallabore der Universität Stuttgart
[Fotos: Universität Stuttgart, Universität Stuttgart, DLR]