Der Marienplatz ist ein zentraler Ort in Stuttgarts Süden. Hier gibt es eine U-Bahn-Station, Bus- und Taxihaltestellen sowie die Endstation der „Zacke“, Stuttgarts Zahnradbahn. Auch eine der Hauptrouten des Radverkehrsnetzes in der baden-württembergischen Landeshauptstadt führt hier entlang. Zudem ist der Platz Teil einer Hauptfußwegeverbindung im Stuttgarter Süden. Wochenmärkte locken zusätzlich Menschen an. Der Marienplatz ist ein beliebter Treffpunkt, hier pulsiert das Stadtleben. Doch das bringt auch Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmenden mit sich. Besonders Fußgänger*innen und Radfahrende spüren das, schließlich sind sie die schwächsten Glieder im Verkehr. Die Stadt Stuttgart will die Gefahren und Unannehmlichkeiten für diese Gruppen am Marienplatz reduzieren – dafür wird er zum Reallabor.
Bedingungen für Rad- und Fussverkehr verbessern
„Die Wahl eines Verkehrsmittels hängt nicht nur von Kosten und Zeitaufwand ab, sondern auch von der Frage, ob eine bestimmte Mobilitätsform als angenehm empfunden wird“, erklärt Dr. Fabian Dembski, wissenschaftlicher Mitarbeiter am HLRS. „Konflikte entlang des Weges und subjektiv empfundener Stress haben darauf einen großen Einfluss.“ Wer also den Rad- und Fußverkehr fördern wolle, tue gut daran, diese Unannehmlichkeiten zu reduzieren.
Das HLRS koordiniert hierzu das vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr geförderte Forschungsprojekt „Cape Reviso“. Es soll mithilfe von digitalen Technologien und unter Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen die Situation der schwächsten Verkehrsteilnehmenden verbessern. Am Projekt beteiligt sind das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC). Darüber hinaus gibt es assoziierte Partner wie die Stadt Stuttgart. Geplant sind neben dem Marienplatz weitere Reallabore in Stuttgart, Karlsruhe und Herrenberg. „Cape Reviso“ startete im Sommer 2020 und läuft drei Jahre.
Mit einem digitalen Zwilling die Verkehrssituation analysieren
„Wir verwenden im Projekt verschiedene Methoden, die wir anschließend soweit möglich frei verfügbar machen“, sagt Dembski. „Diesen Werkzeugkasten können dann Planerinnen und Planer in Kommunen einsetzen und nach eigenem Bedarf erweitern.“ Die Projektbeteiligten arbeiten auf zwei Ebenen: Sie nutzen einen digitalen Zwilling des Marienplatzes und arbeiten mit Sensoren und Künstlicher Intelligenz (KI), um die Verkehrssituation zu erfassen und zu analysieren. Das HLRS hat in einem früheren Projekt bereits ein digitales Modell von Stuttgart erstellt. Darauf baut der digitale Zwilling des Marienplatzes auf, der eine aus verschiedenen Perspektiven zoombare virtuelle Darstellung des realen Platzes sein wird. „Mit Netzwerkanalysen können wir dann erkennen, wo zum Beispiel Radfahrende bevorzugt entlangfahren und so potenzielle Gefahrenzonen identifizieren“, erklärt Dembski.
Parallel dazu rüsten Freiwillige ihre Räder mit Abstandssensoren aus, die im Rahmen des Freiwilligenprojekts „Open Bike Sensor“ entwickelt wurden. Wer mitmacht, kann durch einen einfachen Tastendruck am Lenker Gefahrensituationen erfassen. In Verbindung mit Abstands- und GPS-Daten entstehen so aussagekräftige Ergebnisse. „Einen ähnlichen Ansatz verfolgen wir bei Fußgängerinnen und Fußgängern“, sagt Dembski. Hierzu hat das KIT einen Stressmesser entwickelt. Sensoren am Handgelenk erfassen physiologische Daten wie Puls und Hautwiderstand. In einem Rucksack sind Abstandssensor und Kamera platziert, um die gemessenen physiologischen Daten den Ereignissen in der Umgebung zuzuordnen. „Die Details verdeutlichen, dass die Datenerfassung beim Radverkehr einfacher ist als beim Fußverkehr“, so Dembski. „Der Grund, dass wir für die Datenerfassung überhaupt so einen Aufwand treiben, ist schlicht: Ereignisse wie Beinahezusammenstöße werden in keiner Statistik erfasst.“
Bürgerinnen und Bürger einbeziehen
Die Projektbeteiligten wollen am Marienplatz auch Kameras aufstellen, die Bewegungen im Rad- und Fußverkehr automatisch erfassen. „Da die Datenverarbeitung unmittelbar in den Kameraeinheiten erfolgt, müssen sie keine Bilder speichern“, erklärt Dembski. „Sie speichern nur anonymisierte Metadaten über die Verkehrsteilnehmenden und deren Verhalten: Ob jemand zu Fuß, mit dem E-Roller oder dem Rad unterwegs ist und ob er fährt, bremst oder steht.“ Zunächst muss das HLRS-Team die eingesetzte KI auf diese Erkennung trainieren. „Dafür werden wir auch die Bürgerinnen und Bürger um Unterstützung bitten“, so Dembski. „Sie können händisch exemplarische Bilddaten mit Metadaten verknüpfen.“ Später soll diese KI dann die Situation am Marienplatz automatisch analysieren und damit über einen längeren Zeitraum aussagekräftige Daten liefern.
„Dank digitaler Technologien können wir Menschen viel stärker einbeziehen.“
Dr. Fabian Dembski
„Dank der vielen Daten werden Menschen in der virtuellen 3D-Darstellung des Marienplatzes dann ausprobieren können, wie sich bestimmte verkehrsleitende Maßnahmen auf die Zahl der Konfliktsituationen auswirkt“, sagt Dembski. Ähnliche Analysen kann auch das Kameranetz liefern, wenn diese Maßnahmen vor Ort erprobt werden. „Wir wollen zudem ein großes physisches Modell auf dem Marienplatz aufstellen, sodass Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, ihre Visionen einzubringen.“ Schließlich würden sie den Ort am besten kennen. „Dank digitaler Technologien können wir Menschen viel stärker – und auf eine anschauliche, für alle verständliche Weise – in die Gestaltung des städtischen Raums einbeziehen“, so Dembski. Statt Präsentationen und Plänen gibt es dreidimensionale Darstellungen der geplanten Veränderungen, in denen die Menschen mit der Szenerie verschmelzen.
Das Projekt Green Twins in Estland und Finnland
Ein weiteres Beteiligungsprojekt begleitet das HLRS in Tallinn und Helsinki: Das durch die EU finanzierte Projekt „GreenTwins“ startete im Januar 2021 und läuft bis Mai 2023. Dembski hat eine Forschungsprofessur an der Technischen Universität Tallinn in Estland inne, die das Projekt leitet. Auf finnischer Seite ist die Aalto-Universität beteiligt.
Zwar sind Tallinn in Estland und Helsinki in Finnland durch den finnischen Meerbusen der Ostsee voneinander getrennt. Doch ihr Abstand beträgt nur 80 Kilometer, sodass Klima, Fauna und Kultur der beiden Städte sehr ähnlich sind. Ziel von „GreenTwins“ ist es, einen digitalen Zwilling des urbanen Grüns zu erstellen, um dann in 3D-Visualierungen und Simulationen dessen wechselseitige Beziehungen mit der Bebauung zu untersuchen. „Dabei geht es um Fragen der Pflanzenpflege, des Wurzelwachstums, aber auch des städtischen Mikroklimas“, nennt Dembski Anwendungsbeispiele. „Das HLRS bringt hierbei sein Wissen über digitale Zwillinge mit hohem Detaillierungsgrad ein.“ In Tallinn ist zudem geplant, im Stadtzentrum dauerhaft ein Zentrum für Bürgerbeteiligung und -kollaboration aufzubauen. Dort werden die Bürgerinnen und Bürger mittels zweier großer 3D-Displays künftige städtebauliche Planungen vorab veranschaulicht bekommen. „So will die Stadt Tallinn dauerhaft die Planungsprozesse verbessern“, erklärt Dembski. „Zivilgesellschaft, Architekturbüros, Wissenschaft und Stadtverwaltung sollen miteinander ins Gespräch kommen.“
Dr. Fabian Dembski, E-Mail, Tel.: +49 711 685 87297