Brücke zwischen Biologie und Technik

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart (Ausgabe April 2023)

Sie suchen nach neuen Methoden und Verfahren, mit denen Krankheiten personalisiert und mit weniger Nebenwirkungen behandelt werden können. Auf dem Weg dahin betreten die Forschenden des Potenzialbereichs „Biomedizinische Systeme“ der Universität Stuttgart jeden Tag Neuland.

Nano- und Mikroroboter, die Medikamente in den Menschen transportieren? Maßgeschneiderte Antikörper, die Tumorzellen attackieren? 3-D-Drucker, die verletztes Gewebe im Körper neu aufbauen? Das ist nicht Science Fiction, sondern Gegenstand interdisziplinärer Spitzenforschung an der Universität Stuttgart. Im Forschungsbereich „Biomedizinische Systeme“ führen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften ihre Erfahrungen, Kompetenzen und Methoden zusammen, weil sie die biomedizinische Forschung auf ein neues Niveau heben und die Behandlung von Krankheiten für alle effektiver und verträglicher machen wollen. „Wir bauen eine Brücke zwischen unseren Disziplinen, um gemeinsam neue personalisierte, biomedizinische Systeme zu entwickeln, die einen Mehrwert bieten für Patientinnen und Patienten“, erklärt die Leiterin des wissenschaftlichen Koordinierungsteams, Prof. Monilola Olayioye

Biomedizinische Systeme: von maßgeschneiderten Antikörpern bis zum Neuaufbau von verletztem Gewebe.

Dafür nehmen die Forschenden, wie sie selbst es ausdrücken, „alle Bausteine des Lebens“auf der Nano-, Mikro- und Makroebene in den Blick, angefangen von der Erbinformation über die Proteine und einzelne Zelltypen bis hin zu Organen, die untereinander kommunizieren. Ebenso breit gefächert wie das Forschungsprofil sind die potenziellen Anwendungsfelder für die Innovationen, die hier entwickelt werden. Denn egal ob in der Diagnostik, der Therapie oder bei Reha-Anwendungen: Biomedizinische Systeme werden überall gebraucht.

Dr. Andrea Toulouse
Dr. Andrea Toulouse arbeitet mit ihrem Team unter anderem daran, zerstörtes Gewebe in einer Bandscheibe wiederherstellen zu können.

Exzellent, Innovativ, Vernetzt, International sichtbar

Der Potenzialbereich „Biomedizinische Systeme“

Der Bereich ist 2018 im Zuge der Exzellenzbewerbung der Universität Stuttgart entstanden und spielt für deren Strukturentwicklung eine entscheidende Rolle. „Wir wollen neue zukunftsträchtige Themen vorantreiben, internationale Sichtbarkeit erlangen und durch die Einrichtung von zusätzlichen Tenure-Track-Professuren talentierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler nach Stuttgart holen, um den Potenzialbereich weiter auszubauen“, sagt Koordinatorin Monilola Olayioye.

Der Verbund umfasst drei Säulen: Biotechnologie und Bioengineering, Sensor- und Nanotechnologie sowie biointelligente Geräte und Robotik. Er baut auf starke Natur- und Ingenieurwissenschaften und ihre wachsenden Potenziale in der biomedizinischen Forschung. Mit dem Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) und dem Exzellenzcluster SimTech steht den Forschenden zudem eine einzigartige Infrastruktur für den Umgang mit großen Datenmengen, für Simulationen und die Entwicklung valider Modellsysteme zur Verfügung. Darüberhinaus können sie auf die exzellente Expertise an der Universität Stuttgart in der Quantentechnologie zurückgreifen. Der Verbund arbeitet unter anderem mit dem Bosch Health Campus in Stuttgart, der Universität Tübingen, dem Universitätsklinikum Tübingen und zahlreichen Unternehmen aus der Medizintechnik eng zusammen. Er kooperiert außerdem mit dem Potenzialbereich Autonomous Systems der Universität Stuttgart und dem BMBF-Zukunftscluster Qsens – Quantensensoren der Zukunft.

Potenzialbereich „Biomedizinische Systeme“

Wachsende Bedeutung therapeutischer Antikörper

Das zeigt schon ein Blick in die „Antikörper-Werkstatt“ von Prof. Roland Kontermann und auf die therapeutische Antikörper-Landkarte 2022. „Es werden nicht nur immer mehr. Auch die Anwendungen werden immer breiter“, sagt der Experte für Biomedical Engineering am Institut für Zellbiologie und Immunologie (IZI). Mehr als 130 dieser vom Immunsystem produzierten und für den Einsatz im Menschen designten Proteine sind nach seinen Worten inzwischen als Medikamente für den Kampf gegen Krebs, entzündliche Erkrankungen, Stoffwechselstörungen, Infektionen oder auch neurodegenerative Erkrankungen zugelassen, viele weitere befinden sich in der klinischen Erprobung – maßgeschneiderte Arzneimittel, wie sie auch im Labor des IZI entwickelt werden.

Ein aktuelles Beispiel ist das Molekül „Atrosimab“. Es schaltet Proteine, die das Entzündungsgeschehen bei Krankheiten wie Rheuma auslösen und immer wieder neu ankurbeln, zielgerichtet und nebenwirkungsfrei aus. Das für die Entzündungen maßgeblich verantwortliche sogenannte Zytokin TNF hat zwei Rezeptoren, an die sich ein Antikörper binden kann, um sie zu neutralisieren. Neben dem entzündungsfördernden gibt es auch einen, der zum Beispiel die Entartung von Zellen oder das Wiederaufkeimen von Tuberkulosen verhindert. Mit „Atrosimab“, das gerade in der ersten klinischen Phase erfolgreich erprobt wurde, schaffen es die Forschenden jetzt, gezielt nur die krankmachende Andockstation anzusteuern und auszuschalten.

Helena Nowack und das Biomedical Engineering Team von Prof. Kontermann.

Zukunftsweisende Ansätze bei Tumortherapien

Neue Wege geht das Team vom IZI auch in der Therapie von soliden Tumoren wie zum Beispiel Brust- oder Darmkarzinomen. Der Einsatz von Antikörpern hat sich hier inzwischen etabliert, auch in Kombination mit anderen Therapien, ist aber herausfordernder als zum Beispiel bei der Therapie von Leukämien und Lymphomen. Denn das Gewebe solider Tumoren ist sehr komplex, die Zellen sind schwer zugänglich. Und kein Tumor gleicht dem anderen. Antikörper können ihn bislang auf drei Arten attackieren. Sie können den Zelltod der Tumorzellen herbeiführen, die Versorgung des Tumors mit Blutgefäßen blockieren oder die Immunabwehr aktivieren. Ein sogenanntes Antikörper-Wirkstoff-Konjugat (AWK), also ein Antiköper, der chemisch mit Wirkstoffen gekoppelt ist, zielt jetzt auf das sogenannte Tumorstroma und damit auf eine vierte Sollbruchstelle. Immerhin rund 90 Prozent eines Tumors können aus diesem Bindegewebe bestehen.

Am Einsatz von maßgeschneiderten Antikörpern bei der Behandlung von Krankheiten arbeitet Prof. Roland Kontermann mit seinem Team.

„Wenn diese klinischen Studien erfolgreich sind, wäre das der erste Antikörper, der das Tumorstroma als Zielstruktur hat.“

Prof. Roland Kontermann

OMTX705 heißt das neue AWK. Es gilt als zukunftsweisend, weil es die Bindegewebszellen bindet und gleichzeitig Zytostatika direkt im Tumor freisetzt. Die klinische Erprobung ist gerade gestartet: „Wenn diese klinischen Studien erfolgreich sind, wäre das der erste Antikörper, der das Tumorstroma als Zielstruktur hat“, sagt Kontermann.

Mikroroboter für präzisere Krebsbehandlung

Am Institut für physikalische Chemie (IPC) der Universität Stuttgart entwickelt Biomediziningenieur Dr. Tian Qiu mit seiner Forschergruppe „Biomedizinische Mikrosysteme“ die Krebsbehandlung aus einem anderen Blickwinkel weiter. Im Rahmen seines vom European Research Council (ERC) geförderten Projekts VIBEBOT arbeitet er an einem Mikroroboter, der menschliches Gewebe durchdringen soll, um zum Beispiel Chemotherapeutika präzise an die richtige Stelle eines Tumors zu bringen. „Verabreicht man solche Arzneimittel oral oder intravenös, erreicht in der Regel nur rund ein Prozent der Dosis ihr Ziel“, erläutert der Wissenschaftler. „Der Rest verteilt sich irgendwo im Körper und verursacht Nebenwirkungen.“

Qiu vergleicht die Medikamenten-Trucks gerne mit Fischen im Netz. Um durch die Maschen zu schlüpfen, müssen sie entweder klein genug oder in der Lage sein, das Netz zu zerstören. Um das zu erreichen, orientiert sich der Bioingenieur an Vorbildern aus der Natur. Einen ersten Durchbruch hat das Team dabei bereits erzielt. Inspiriert vom Kolibakterium ist ein 500 Nanometer kleiner Roboter entstanden, der durch das Gewebenetz eines Augapfels „schwimmen“ kann. Gesteuert wird dieser „Nanopropeller“ durch ein Magnetfeld. Sein Ziel ist die Netzhaut, wo er Medikamente platziert. Für die Behandlung von Augenkrankheiten, die in der Regel mittels schwer dosierbarer und nur langsam wirkender Tropfen erfolgt, ist das im Schweineauge erfolgreich erprobte Verfahren ein echter Fortschritt.

Im Gegensatz zum Augapfel haben andere Weichteile ein dichteres Polymernetzwerk und sind schwerer zu durchdringen. Erforderlich ist daher ein stärkerer Roboter mit einem anderen Design. Den rund 100 Mikrometer großen VIBEBOT, das Akronym steht für „Vibrational Microrobot“, wollen die Forschenden nach dem Vorbild eines anderen Mikroorganismus bauen: dem Pärchenegel. Dieser Parasit kann mithilfe seiner vibrierenden Bewegungen binnen weniger Minuten in die menschliche Haut eindringen. „Ein ähnliches System brauchen wir, wenn wir biologisches Gewebe durchdringen wollen“, sagt Qiu. Aber wie navigiert man eine solche Minimaschine drahtlos und kontrolliert durch den Körper? Wie konstruiert man den Antrieb? Wie kann der Mikroroboter fühlen? Und wie kann man ihn zuverlässig lokalisieren? Mit diesen Fragen werden sich Qiu und sein Team in den kommenden fünf Jahren beschäftigen. Klar ist für ihn jedoch schon jetzt: „Unsere Forschungen haben ein riesiges Potenzial, auch schwer erreichbare Regionen im Körper wie zum Beispiel im Gehirn minimalinvasiv zu behandeln“.

Der Biomediziningenieur Dr. Tian Qiu entwickelt Mikroroboter, die Medikamente präzise an die richtigen Stellen bringen sollen.

„Unsere Forschungen haben ein riesiges Potenzial, auch schwer erreichbare Regionen im Körper wie zum Beispiel im Gehirn minimalinvasiv zu behandeln.“

Dr. Tian Qiu

Den kleinsten 3-D-Drucker der Welt entwickeln

Minimalinvasive Methoden sind in der Chirurgie und Orthopädie schon bei vielen Erkrankungen und Verletzungen State of the Art. Die Projekte im Potenzialbereich „Biomedizinische Systeme“ zeigen aber auch, wie viel Luft nach oben und wie viel Forschungsbedarf es noch gibt. Zum Beispiel im Konsortium „EndoPrint3D“. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Physik, Biotechnologie und den Ingenieurwissenschaften haben sich viel vorgenommen: „Wir entwickeln gerade gemeinsam den kleinsten 3-D-Drucker der Welt“, berichtet Verbundkoordinatorin Andrea Toulouse. Er soll auf eine Nadelspitze passen und aus biogenen, das heißt dem Körper bekannten Materialien wie Kollagen oder Hyaluronsäure zerstörtes Gewebe im Körper „nachdrucken“ – etwa um Teile einer Bandscheibe oder ein Ohrknöchelchen wiederherzustellen oder kleinste Löcher in der Herzscheidewand von Embryonen zu schließen. Das Verfahren soll Verletzungen schnell und so präzise heilen, dass das umliegende Gewebe möglichst geschont wird.

Minimalinvasive Methoden etwa an Kniegelenken wollen Forschende verbessern.

Der Drucker befindet sich am Ende eines Glasfaserendoskops, das einen Durchmesser von einem Millimeter hat. Er ist mit einem modifizierten Ultrakurzpuls-Laser verbunden, der in der Arbeitsgruppe von Prof. Harald Gießen am 4. Physikalischen Institut eingesetzt wird. Dieser Laser härtet die mikrofluidisch zugeführte „Biotinte“ aus. An der verletzten Stelle wird damit die extrazelluläre Matrix nachgebaut, welche als feines Gewebegeflecht die für die Regeneration notwendigen Zellen aufnehmen kann. Als „Klettergerüst“ bezeichnet dies Michael Heymann, Juniorprofessor am Institut für Biomaterialien und Biomolekulare Systeme.

Das "EndoPrint3D"-Team um Dr. Andrea Toulouse (l.), Jun.Prof. Michael Heymann und Prof. Harald Gießen (Mitte).

„Der Druckvorgang setzt einen Regenerationsprozess in Gang, den der Körper dann selbst weiterführen muss“, erläutert seine Kollegin Andrea Toulouse. „Mehr auf die Fähigkeiten des Körpers zur Selbstheilung zu bauen als in Ersatzteilen zu denken“ ist auch die Vision, die Heymann antreibt. Wenn alles gut läuft, soll in zwei Jahren das Gesamtsystem aus Laser, Endoskop, Drucker und Biotinte in Betrieb gehen und damit den Proof of Concept erbringen, den das Team braucht, um seine Innovation weiterentwickeln zu können.

Koordinatorin Prof. Monilola Olayioye

„ Aber wir müssen auch weiterdenken und am Ende intelligente Systeme entwickeln, die nicht nur personalisierbar, sondern auch einfach konstruiert, adaptierbar und bezahlbar sind.“

Prof. Monilola Olayioye

Atrosimab, OMTX705, VIBEBOT und EndoPrint3D sind nur ein paar Beispiele aus dem großen Portfolio der exzellenten Forschung im Potenzialbereich. Um sie zu orchestrieren, setzt Koordinatorin Monilola Olayioye vor allem auf eines: viel Kommunikation. „Wenn man mit diversen Teams wissenschaftliche Erfolge erzielen und gemeinsame Produkte entwickeln will, braucht man eine gemeinsame Sprache.“ Und einen langen Atem: Bis zu 15 Jahre hat das IZI-Team gebraucht, um seine neuen Antikörper in die Erprobung am Menschen zu bringen. Tian Qiu wiederum schätzt, dass es – optimistisch gerechnet – mindestens ein Jahrzehnt dauern wird, bis die Nano- und Mikroroboter, die in den Laboren des IPC gebaut werden, sich im Patienten in Bewegung setzen können. „Vieles ist möglich und auch im klinischen Alltag auch schon angekommen“, sagt Prof. Olayioye. „Aber wir müssen auch weiterdenken und am Ende intelligente Systeme entwickeln, die nicht nur personalisierbar, sondern auch einfach konstruiert, adaptierbar und bezahlbar sind.“

Teil des Puls-Stretchers zur Vorbereitung der Laserpulse im Projekt "EndoPrint3D"

Autorin: Jutta Witte

Prof. Monilola Olayioye, E-Mail, Tel.: +49 711 685 69301

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