kleines, rundes intelligentes Pflaster auf Spatel

Personalisierte Medizin mit intelligenteren Pflastern

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart (Ausgabe April 2023)

Neue Materialien sollen in Pflastern eine kontrollierte Wirkstoffabgabe ermöglichen.

Funktionale Polymere eröffnen neue Möglichkeiten in der personalisierten Medizin. Ein interdisziplinäres Stuttgarter Team arbeitet hierfür an neuen Materialklassen und kombiniert das Know-how aus Mechanik und Chemie.

Pflaster, die Hormone oder Schmerzmittel abgeben, sind medizinischer Alltag. Aufgeklebt auf die Haut, dienen sie als Reservoir für den Wirkstoff, der nach und nach in den Körper übergeht. Diese Wirkstoffaufnahme über die Haut wird künftig weiter an Bedeutung gewinnen, um Krankheiten oder Wunden zu behandeln. 

Interdisziplinäres Team: Prof. Sabine Ludwigs und Prof. Holger Steeb

Mit intelligenteren Pflastern wäre es möglich, noch gezielter zu behandeln und die Medizin letztlich weiter zu personalisieren. So ließe sich besser auf die spezifischen Bedürfnisse einzelner Patientinnen und Patienten eingehen. Um diesem Ziel näher zu kommen, gibt es viele Ansatzpunkte. Einer davon sind Funktionspolymere – und hier kommen Prof. Sabine Ludwigs und Prof. Holger Steeb von der Universität Stuttgart ins Spiel. Ludwigs ist Inhaberin des Lehrstuhls für Struktur und Eigenschaften Polymerer Materialien am Institut für Polymerchemie, Steeb Professor für Kontinuumsmechanik und Direktor des Instituts für Mechanik (Bauwesen). „Wir entwickeln eine neue Materialklasse von Polymeren, die wichtige Eigenschaften für künftige Anwendungen in der personalisierten Medizin aufweist“, sagt Ludwigs. „Die Stärke unseres Ansatzes ist, dass wir unser Know-how aus Mechanik und Chemie in dieser Forschung kombinieren.“

Biokompatible Polymere für die Pharmazie

Dass Polymere überhaupt von Bedeutung für die Medizin der Zukunft sind, mag im ersten Moment erstaunen. Schließlich spielen Polymere im Alltag vor allem als Kunststoffe eine Rolle. Aber so wie es Polymere gibt, die in Plexiglas oder Autoreifen stecken, kommen andere zum Beispiel in den Hüllen von magensaftresistenten Kapseln zum Einsatz. Je nach Verwendungszweck sind sie sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist jedoch allen Polymeren, dass es sich um riesige Moleküle handelt, die aus sehr vielen, sich wiederholenden Atomgruppen bestehen. Oft bilden sich aus den einzelnen langen Polymerketten miteinander verschlungene Strukturen, die ein bisschen an das Durcheinander eines Tellers Spaghetti erinnern und die durch geschickte Chemie vernetzt werden können. Die Teams von Ludwigs und Steeb interessieren sich für sogenannte funktionalisierte Polymere, die biokompatibel sind, also einem Organismus durch ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften nicht schaden. Genauer: „Wir suchen biokompatible Polymere, die für die Pharmazie interessant sind“, sagt Ludwigs. 

Prof. Sabine Ludwigs und Prof. Holger Steeb betrachten die Möglichkeit zur Nutzung von Polymeren für die Medizin auf einem Poster
Nutzung von Polymeren für die Medizin im Blick.

In Polymernetzwerke lassen sich nämlich medizinische Wirkstoffe einlagern, die dann nach und nach kontrolliert an den Körper abgegeben werden – immer gerade so viele, wie dieser braucht. Die Stuttgarter Teams arbeiten bei ihrer Forschung mit Pharmazeutinnen und Pharmazeuten um Prof. Dominique Lunter und Prof. Stefan Laufer von der Eberhard Karls Universität Tübingen zusammen. „Der traditionelle Ansatz der Pharmazie ist die Verwendung von Polymeren, welche in Arzneibüchern als zugelassene Polymere gelistet sind, und mit diesen dann zu experimentieren“, erklärt Ludwigs. Oft sind diese Polymere in ihrem Anforderungsprofil allerdings limitiert. Ludwigs und Steeb wählen daher einen anderen Ansatz.

Prof. Steeb und Prof. Ludwigs bei der Arbeit.

Die Abgabe eingelagerter Wirkstoffe gezielt regulieren

Gemeinsam mit den Tübinger Kolleginnen und Kollegen diskutieren sie zunächst interessante Eigenschaften, die geeignete Polymere haben könnten. Interessant heißt, dass solche Polymere ihre großräumige Struktur verändern, wenn ein äußerer Reiz auf sie einwirkt. Durch diese Veränderung entweicht dann der eingelagerte Wirkstoff. Wünschenswert ist dabei oft, dass sich die Wirkstoffabgabe regulieren lässt, die Strukturänderung des Polymers also reversibel auf den äußeren Reiz reagiert.

„Reize können zum Beispiel Änderungen im pH-Wert, in der Feuchtigkeit oder in der Temperatur sein“, verdeutlicht Ludwigs. Reagiert ein Polymer zum Beispiel auf Feuchte, kann es viele Wassermoleküle aufnehmen, ohne dass es seine strukturellen Eigenschaften verliert. Im Polymernetzwerk laufen solche Änderungen autonom ab, wenn ein definierter Wert des Reizes erreicht ist. „Es ist aber auch möglich, die Veränderung des Polymernetzwerks von Hand durch einen äußeren Reiz auszulösen, zum Beispiel durch das Einschalten eines schwachen elektrischen Felds.“ Dazu muss ein geeignetes Polymer elektrisch leitfähig sein.

zwei Doktorand*innen sitzen nebeneinander im Labor und betrachten Forschungsmaterial
Doktorand*innen untersuchen neue Materialien im Labor.

Ludwigs’ Team stellt zunächst vielversprechende Polymere im Labor her. Sie müssen nicht nur die gewünschte Funktionalisierung aufweisen, sondern auch bestimmte elastische Anforderungen erfüllen, da sie im späteren pharmazeutischen Produkt dauerhaft auf der Haut haften sollen, auch wenn der Mensch sich bewegt. Ob das die neu kreierten Polymere leisten, untersucht Steebs Team, indem es die Polymerproben unter Zug mechanisch charakterisiert. „So ermitteln wir die viskoelastischen Eigenschaften“, sagt Steeb. „Wenn es zum Beispiel darum geht, dass ein Polymer Feuchte aufnehmen soll, können wir unsere Messung unmittelbar während der Einlagerung der Wassermoleküle durchführen.“ Um die Messungen überhaupt zu ermöglichen, bedarf es einigen Know-hows. „Oft sind die Polymerproben so klein oder so fragil, dass wir sie nicht einfach wie eine metallische Probe in eine Prüfmaschine einspannen können“, erklärt Steeb. „Manchmal muss man die kontrollierte Krafteinwirkung zum Beispiel durch Aufrollen der Probe erzeugen.“ 

Unser Alleinstellungsmerkmal ist die enge Verzahnung von Chemie und Ingenieurwesen.

Prof. Holger Steeb
unterschiedliche kleine Versuchsmaterialien in Plastikbox
Gut sortiert: verschiedene Versuchsmaterialien für die Forschung.

Teams in Stuttgart und Tübingen arbeiten eng zusammen

Möglicherweise ist ein Ergebnis der Untersuchungen, dass die Polymerprobe die gewünschten Eigenschaften nicht lange genug beibehält – dann ist das Team von Ludwigs erneut gefordert. Doch wenn die gemessenen Eigenschaften vielversprechend sind, dann modeliert Steebs Team das funktionale Material am Rechner, um auf diesem Wege kausale Zusammenhänge des Polymers vorherzusagen, die wiederum das Chemieteam nutzen kann, um das Polymer weiter zu verbessern. Natürlich stehen nach der Überarbeitung erneut Zugversuche an. „Letztlich geht es darum, die Rheologie des Polymers grundlegend zu verstehen“, so Steeb. Die Rheologie gibt Auskunft darüber, unter welchen Bedingungen ein Material sich reversibel verformt, wann dauerhaft oder wann gar nicht. „Haben wir in Stuttgart schließlich ein Polymer vorliegen, mit dem wir zufrieden sind, messen die Tübinger Gruppen das Be- und Entladeverhalten experimentell“, sagt Ludwigs. Möglicherweise schließen sich daran erneute Schleifen in den Stuttgarter Chemie- und Mechaniklaboren an, um das Polymer weiter zu verbessern.

Einsatzmöglichkeiten in personalisierter Tumortherapie

Ludwigs und Steeb kooperieren bei diesem Thema nun seit rund vier Jahren. Funktionale Polymere sind ein umfassendes und weltweit intensiv bearbeitetes Forschungsfeld. „Unser Alleinstellungsmerkmal ist die enge Verzahnung von Chemie und Ingenieurwesen“, sagt Steeb. Und die ist nun noch enger geworden: Anfang des Jahres ist das interfakultäre Functional Soft Materials Lab in Betrieb gegangen. „So rücken unsere Teams im Arbeitsalltag noch enger zusammen“, sagt Ludwigs. Angesiedelt ist das Labor am Stuttgart Center for Simulation Science (SC SimTech), dessen wissenschaftlichem Leitungsteam Steeb angehört. Die Zusammenarbeit von Ludwigs und Steeb endet nicht bei den funktionalen Polymeren als Auslöser für die Wirkstoffgabe. Funktionale Polymere sind auch beim künftigen 3D-Druck für eine personalisierte Tumortherapie gefragt, so Steeb. „Auch beim 3D-Druck kommt es auf die Rheologie der Polymere an, um eine optimale Funktionalität zu bekommen.

Text: Michael Vogel

Prof. Dr. Holger Steeb, E-Mail, Tel. +49 711 685 66029

Prof. Dr. Sabine Ludwigs, E-Mail, Tel. +49 711 685 64441 

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