Mit einer neuen Art von Bioanalytik lässt sich die Prognostik erweitern. Zwingend erforderlich ist dazu ein wirklich grundlegendes Verständnis molekularer Vorgänge. Die Umsetzung soll im Zukunftscluster nanodiag BW gelingen, zu dem auch zwei Arbeitsgruppen der Universität Stuttgart gehören.
Der Mensch besteht aus 100 Billionen Zellen. Jede hat eine spezifische Aufgabe im Körper. Da die Zellen nur eine begrenzte Zeit leben, teilen sie sich regelmäßig. Diese Teilung ist ein hochkomplexer Vorgang, der erstaunlich exakte Kopien der Mutterzelle liefert. „Doch in der Medizin ist inzwischen auch bekannt, dass selbst unsere Lebensweise minimale Veränderungen in einem Gen oder bei der Bildung neuer Proteine in einer Zelle verursachen kann“, erläutert Prof. Stephan Nußberger. In der Folge können sich Zellen ungehemmt vermehren oder womöglich Krankheitserreger schlechter abwehren. „Diabetes, Krebs oder Infektionserkrankungen – sie können auch eine Folge dieser minimalen Fehler sein“, sagt der Biophysiker, der am Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme der Universität Stuttgart forscht. „Solche Krankheiten zu diagnostizieren ist oft kein Problem“, so Nußberger, „doch künftig will die Medizin die Diagnostik durch eine Prognostik erweitern.“ So ließe sich das Problem bereits in einem frühen Stadium erkennen, und mit einer schonenden Behandlung könnte man rechtzeitig gegensteuern.
Solche Krankheiten zu diagnostizieren ist oft kein Problem, doch künftig will die Medizin die Diagnostik durch eine Prognostik erweitern.“
Prof. Stephan Nußberger
Cluster für eine neue Art der Bioanalytik
Für diese Vision steht der Zukunftscluster nanodiag BW. An ihm wirken die mit der Universität Stuttgart eng verbundene Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung, sieben Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sowie neun Unternehmen mit. Seitens der Universität sind Nußbergers Arbeitsgruppe und eine Gruppe um Prof. Christian Holm vom Institut für Computerphysik beteiligt. Konkret soll eine neue Art der Bioanalytik entstehen: die Analyse von Biomolekülen mittels Nanoporen. Das Verfahren macht eine Anleihe an die Arbeitsweise von Zellen. „Jede hat Poren in ihrer Zellwand, über die der Stoffwechsel erfolgt“, erklärt Nußberger. Dabei wandern zum Beispiel Ionen, Zuckermoleküle oder auch Biomoleküle durch die Poren.
„Abhängig von dem, was eine Pore transportiert, hat sie einen Durchmesser zwischen 0,1 und fünf Nanometern.“ 0,1 Nanometer entspricht einem Atomdurchmesser, ein Nanometer sind ein Millionstel eines Millimeters. Die technische Nachbildung dieses Transportmechanismus lässt sich zum Nachweisprinzip von einzelnen Molekülen ummünzen: Eine Kammer mit einer elektrisch leitfähigen Flüssigkeit wird durch eine Membran in zwei Bereiche getrennt. Die Membran hat Poren. In der Flüssigkeit, für gewöhnlich eine Salzlösung, sind die zu analysierenden Moleküle. Liegt eine elektrische Spannung an, so fließt durch die Membranporen ein Strom, weil die in der Flüssigkeit vorhandenen Ionen wandern. Steckt dagegen ein Molekül in der Pore fest oder wandert durch diese hindurch, sinkt der Strom. Die Veränderung ist charakteristisch für das, was die Pore blockiert oder passiert hat.
Messungen im Millisekundenbereich
„Bislang ist nur die Analyse von DNA kommerziell mittels der Nanoporentechnologie umgesetzt worden“, sagt Christian Holm. „Für unsere Fragestellung ist aber die Charakterisierung von Proteinen bis hin zu ihrer direkten Sequenzierung relevant.“ Sequenzierung heißt, die Abfolge der Aminosäuren zu bestimmen, aus denen ein Protein aufgebaut ist. Im Projekt sollen die Untersuchungen zunächst mit Bionanoporen erfolgen, mit gezielt hergestellten biologischen Poren. Die zu analysierenden Moleküle unterscheiden sich dann voneinander zum Beispiel nur an einer Stelle durch eine Handvoll Atome – die besagte Veränderung infolge der Lebensweise des Individuums. Dazu müssen die Projektbeteiligten winzige Ströme zeitlich aufgelöst im Millisekundenbereich messen können. Die elektrischen Ströme liegen bei einem Billionstel Ampere. Um die Größenordnung einzuordnen: Beim Laden eines Smartphones fließt etwa ein Ampere.
„Damit dies alles gelingt, brauchen wir ein umfassendes Verständnis der Nanoporen und der Wechselwirkungen der Poren mit den Proteinen“, sagt Holm. Umfassend bedeutet hier wirklich umfassend: Das relevante Geschehen spielt sich in einem Raumvolumen ab, das wenige Kubiknanometer groß ist. Auf der Ebene von Atomen und Molekülen betrachtet tragen zu diesem Vorgang trotzdem zig Hunderttausende einzelne Teilchen bei – Teilchen aus der wässrigen Lösung, Teilchen des zu analysierenden Proteins,Teilchen der Porenwände. „Die Vorgänge sind im Detail unverstanden“, sagt Holm. Hier kommt die Arbeitsgruppe des theoretischen Physikers ins Spiel.
„Wir erstellen am Computer ein Modell der Proteine, der Pore und der Flüssigkeit“, so Holm. Dieses Modell berücksichtigt zum Beispiel, welche Bereiche eines Proteins eher starr, welche eher flexibel sind und wie stark seine Atome miteinander wechselwirken. Es berücksichtigt zudem die relevanten mechanischen und elektrischen Kräfte. „Mit diesem Modell simulieren wir dann den Durchgang der Proteine durch die Nanopore, um herauszufinden, wie sich die Proteine in ihr bewegen und welche Wechselwirkung welches Stromsignal erwarten lässt.“
Die Ergebnisse dieser Simulationen gleichen die Clusterbeteiligten immer wieder mit den Ergebnissen von Experimenten ab, die in Freiburg laufen. „Gemeinsam mit einem Team der RWTH Aachen wollen wir dann eine Software entwickeln, mit der sich reale Stromsignale verlässlich analysieren lassen“, sagt Holm. Diese Analyse wird mit Verfahren der künstlichen Intelligenz erfolgen, denn die Signale werden verrauscht sein und oft durch Proteinveränderungen entstehen, die zuvor nie experimentell gemessen wurden, weil es viel zu viele Varianten gibt.
Damit dies alles gelingt, brauchen wir ein umfassendes Verständnis der Nanoporen und der Wechselwirkungen der Poren mit den Proteinen."
Prof. Christian Holm
Die Aufgabe von Nußbergers Team wird es sein, für die Entwicklung des Strommessverfahrens Kontrollmessungen zu liefern. „Wir verfügen über ein optisches System, das erfassen kann, ob eine Pore gerade offen oder geschlossen ist“, sagt Nußberger. „Bei der Herstellung der Bionanoporen ist dagegen nicht kontrollierbar, ob im relevanten Areal einer Membran die gewünschte einzelne Pore entsteht oder mehrere. Eine reine Strommessung könnte deshalb verfälscht sein.“
Von Grundlagenforschung bis zur Produktionsentwicklung
In einem zweiten Projekt wollen die Clusterbeteiligten das Verfahren dann auf Festkörpernanoporen erweitern. „Das sind Poren in künstlich hergestellten dünnen Membranen, etwa aus Graphen“, erklärt Holm. Da Graphen ein zweidimensionales Material ist, wären die Poren nur eine Atomlage dick. „Es könnte zu einem gegebenen Zeitpunkt wirklich immer nur genau ein Proteinbaustein durch eine Pore wandern, was die Signalauflösung weiter steigern würde“, sagt Holm. Bislang ist das aber nur Theorie, denn die Herstellung dieser Poren ist noch nicht ausreichend reproduzierbar. Auch die Messung wäre anspruchsvoller: Das Signal ist nochmals schwächer und kürzer als bei Bionanoporen und das Rauschen stärker. Dafür wären Festkörpernanoporen robuster, ließen sich flexibler einsetzen und in elektronische Systeme integrieren. Zudem ließen sich viele Festkörpernanoporen nebeneinander auf einer Membran anordnen und damit die Messungen parallelisieren. Es wäre das optimale Analysegerät.
Der Cluster ist auf dreimal drei Jahre angelegt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert ihn mit 45 Millionen Euro. „In den ersten drei Jahren wollen wir die Grundlagen für die Entwicklung schaffen“, sagt Holm, „in den folgenden drei Jahren möchten wir uns auf die vielversprechenden Ansätze fokussieren, bevor wir uns dann in den letzten drei Jahren dem Übergang in das Produkt widmen.“