Wenn Prof. Syn Schmitt erklären soll, woran er forscht, dann zeigt der 47-Jährige in seinem Büro auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart auf eine Maschine neben dem Schreibtisch: „Das ist ein Jonglierroboter.“ Der Roboter verfügt über zwei Stangen, an deren Enden sich jeweils ein Körbchen befindet. Sie ahmen Arme und Hände nach. „Eigentlich ist das nur ein Motor, der mit konstanter Geschwindigkeit die Arme hoch und runter bewegt“, erklärt der Co-Koordinator des Potenzialbereichs Biomedizinische Systeme und Forscher im Exzellenzcluster „Datenintegrierte Simulationswissenschaft“ (SimTech) der Universität Stuttgart. „Das geht deswegen, weil die Arme genau die richtige Länge haben, die Hände genau richtig designt wurden.“
Die Biologie des Menschen abzubilden, sie in Regeln zu formulieren, zu simulieren und sie in technische Systeme zu übertragen, gehört zu den zentralen Aufgaben Schmitts, der auch, zusammen mit Prof. Oliver Röhrle, das Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme (IMBS) leitet. Zudem geht es darum, Kriterien zu finden, um ein technisches Design zu bewerten: Wie nah ist es einem biologischen? Wie sehr ähnelt sich beispielsweise die Form? Wie sind seine dynamischen Eigenschaften?
Physik und Sport prägen Ausbildung und Studium
Seine Leidenschaft für die Dinge, die die Welt zusammenhalten, entdeckte Schmitt in seiner Berufsausbildung bei IBM zum Kommunikationselektroniker. Sechs Wochen lang ging er als Azubi im Forschungszentrum des damaligen Computerherstellers einem Physiker zur Hand, der mit Materialien für Computerchips experimentierte.
Als Natursportler und leidenschaftlicher Skifahrer, wie er sich selbst bezeichnet, beschloss der in der Keplerstadt Weil der Stadt aufgewachsene Schmitt später, Physik und Sport in einem Diplom- und Lehramtsstudium zu kombinieren. Das fachgebundene Abitur hatte er nach der Ausbildung nachgeholt.
Ein Forschungsziel: Hilfsgeräte für Menschen
Heute fließt die biophysikalische Forschung des etwa 20-köpfigen Teams um Schmitt beispielsweise in ein intelligentes Assistenzgerät für Patienten mit neurodegenerativen Bewegungsstörungen (iAssistADL) ein. Die Forschungsgruppe hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2024 ein Hilfsgerät für Menschen zu erarbeiten, deren Hand unkontrolliert zittert. „Menschen, die diesen Tremor im Arm haben, können nicht schreiben, nicht aus einem Glas trinken“, erklärt Schmitt. „Wir wollen ein robotisches System entwickeln, das möglichst unter der Kleidung verschwindet. Es soll dennoch so stark mit den Menschen zusammenarbeiten, dass es ihnen viele Funktionen des Armes abnimmt und erkennt, ob ich das Glas greifen und trinken oder die Gabel nehmen und essen möchte.“ Die Forschenden arbeiten mit einem robotischen Arm, der auf einem Stuhl montiert ist. Doch seine Funktionen müssen sie ihm erst beibringen. Dazu schreiben sie ein Programm, das Sensordaten auswertet und erkennt, in welchem Kontext sich der Mensch befindet und was er vorhat.
„Wir können nicht ins Gehirn schauen, müssen aber möglichst nah ran an die Entscheidungsprozesse“, erklärt Schmitt. Dazu erfasse man, wie die Augen sich bewegen. Einige Millisekunden vor einer Bewegung spannen sich die Muskeln an. Dies misst man über die Hautoberfläche mit Elektroden. „Wenn wir die Aktivität frühzeitig erkennen, können wir das mit unseren biophysikalischen Modellen fusionieren: Wir hoffen, dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen, ob die Person das Glas greifen wird“, beschreibt der Forscher. „Dann kann der Roboterarm rechtzeitig eingreifen, bevor die Person das Glas umschüttet.“ Der Stuhl mit dem klobigen mechanischen Arm ist für Schmitt nur ein Zwischenschritt, um mit klassischer Robotik vorzubereiten, was in zehn bis 15 Jahren mit moderner, bioinspirierter Robotik für den Alltag taugen soll. „In Zukunft sollen das softrobotische, textile Exoskelette sein, die in der Forschung schon existieren. Sie werden sich wie ein steifer Pullover um den Arm legen. Wir nennen das bionische Integration“, erklärt er.
Wir können nicht ins Gehirn schauen, müssen aber möglichst nah ran an die Entscheidungsprozesse
Prof. Syn Schmitt
Künstliche Muskeln gibt es zwar schon, doch die Rechnerleistung und die Energieversorgung bereiten Probleme. Deshalb forschen Schmitt und sein Team daran, sich von der Natur abzuschauen, wie Informationen verarbeitet werden. „Die Biologie schafft das: Wir können Dartscheiben treffen, rennen, Klavier spielen, ohne dass es einen großen und schnellen Zentralrechner gibt. Wir haben zwar das Gehirn mit vielen Neuronen, aber trotzdem eine vergleichsweise geringe Signalverarbeitungsgeschwindigkeit.“ Die Muskeln selbst speichern Energie, dazu die Organe. „Für moderne Robotiksysteme würde alles für eine verteilte Verarbeitung, verteilte Energiespeicherung sprechen“, erklärt Schmitt.
Freispruch im "Badewannen-Mord"?
Den Gedanken, mithilfe von Simulationen Dinge zu beweisen, die Menschen ausschließen, lernte der Forscher während seiner Dissertation in der theoretischen Astrophysik in Tübingen bei Prof. Hanns Ruder kennen. Bundesweit bekannt wurde Schmitt mit einer Simulation zum „Badewannen-Mord“ von Rottach-Egern. Er zeigte, dass eine Seniorin mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Fremdverschulden in eine Badewanne hätte stürzen können und dabei die in der Obduktion festgestellten Verletzungen erlitten haben könnte. Unter anderem aufgrund dieses Gutachtens wurde der als Mörder verurteilte Manfred Genditzki 2022 freigelassen. Denn das Gericht erkannte die Simulation menschlicher Bewegungen als neue Beweismethode an.
Nun verhandelt das Gericht den Fall neu, das Urteil wird Anfang Juli 2023 erwartet. Sollte es zu einem Freispruch kommen, käme dies nach Auffassung namhafter Juristen einem historischen Ereignis der deutschen Justizgeschichte gleich: Noch nie wurde eine durch eine Schwurkammer rechtskräftig als Mörder verurteilte Person nach so vielen Jahren freigesprochen - und die Stuttgarter Simulationsmethoden hätten maßgeblichen Anteil daran. „Es wäre grundsätzlich die Frage, menschliche Forensik neu zu denken“, sagt Syn Schmitt daher. „Die biophysikalische Simulation könnte die Dynamik vor einem wichtigen Ereignis berücksichtigen und objektive Aussagen generieren.“
Mit der Idee des damaligen SimTech-Leiters Prof. Wolfgang Ehlers, die BiomechanikModellierung voranzutreiben, war Schmitt 2008 an das Exzellenzcluster nach Stuttgart gekommen. Er gründete am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft eine Nachwuchsgruppe, wurde Juniorprofessor in Stuttgart und übernahm im neu gegründeten IMBS schließlich eine Professur.
Einsatz für Chancengleichheit in der Wissenschaft
Für jedes seiner zwei Kinder nahm der Forscher fünf Monate Elternzeit. Und weil er feststellte, dass dies auch für eine Karriere in der Wissenschaft nicht ohne Folgen bleibt, übernahm er zeitweise das Amt des Gleichstellungsbeauftragten im SimTech. „Mir ist Chancengleichheit wichtig, weil ich davon überzeugt bin, dass man nur dann optimale Erfolge erzielt, wenn man die Chancen für alle gleichmacht und alle Hürden abbaut, die nicht mit der Forschung zu tun haben“, sagt Schmitt. Er fühle sich dort wohl, wo niemand frage, woher man komme, sondern welche Ideen man mitbringe. Im SimTech sieht Schmitt diese Atmosphäre verwirklicht. Deshalb nennt er den Exzellenzcluster „meine Heimat“: „Es ist eine neue Form von interdisziplinärer Universität: Regelungstechnik, Mathematik, Physik, Elektrotechnik, Informatik sind alles notwendige Disziplinen für unsere Arbeit. Meiner Meinung nach ist es die Zukunft, die Barrieren zwischen den Fächern einzureißen“, sagt der Wissenschaftler. „Dann sind fundamental neue Erkenntnisse zu erwarten.“
Das Projekt iAssistADL
Im Projekt iAssistADL arbeiten das Hertie Institut für klinische Hirnforschung (HIH) der Universität Tübingen und das Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF), das Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme (VIS) und das Institut für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme (IMSB) der Universität Stuttgart zusammen, um ein intelligentes Assistenzgerät für Menschen mit neurodegenerativen Bewegungsstörungen zu entwickeln. Projektleiter ist Prof. Dr. Daniel Häufle vom HIH. Die Software entwickelt ein Team um Prof. Syn Schmitt vom IMSB und Prof. Andreas Bulling vom VIS im Exzellenzcluster Datenintegrierte Simulationswissenschaft (EXC2075).
Autor: Daniel Völpel
Prof. Dr. Syn Schmitt, E-Mail, Telefon: +49 711 685 60484