Grammatische Kombiniererinnen

Faktor X - Geist trifft Maschine

Linguistinnen sind Sprachveränderungen bei bilingualen Menschen auf der Spur.

„Dikka brat, du weißt nich grad, was passiert ist“, dieser Satz aus der Whats-App-Nachricht eines russischstämmigen Teenagers an seinen Freund zeigt als kleines Beispiel, wie kreativ junge Menschen mit Migrationshintergrund die Muttersprache ihrer Vorfahren mit der Sprache ihres Heimatlandes kombinieren. Eine
Forschergruppe will nun erstmals vergleichend untersuchen, ob und wie diese Menschen die Grammatiken ihrer Sprachen dauerhaft verändern. Zwei Linguistinnen der Universität Stuttgart untersuchen dabei die Sprechweise russischstämmiger junger Leute in den USA.

Eine Frau auf dem Fahrrad ist von einem Auto angefahren worden. Wie genau ist das geschehen? Was tun die Beteiligten? Eine Bildergeschichte mit Szenen wie dieser steht im Mittelpunkt der Sprach-Versuche des Instituts für Linguistik, Abteilung Anglistik, der Universität Stuttgart: Eine Gruppe von Testpersonen bekommt die Geschichte vorgelegt. Nun sollen die Probanden erzählen, was sie gesehen haben: einer Person im Raum, einem Freund über einen Messanger-Dienst auf dem Smartphone, einem Polizisten bei der Zeugenvernehmung.

Per Smartphone zu kommunizieren, ist bei jungen Menschen erste Wahl. Wie diese Art der Unterhaltung sich zum Beispiel auch auf die Grammatik auswirkt, untersucht eine Gruppe von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Prof. Sabine Zerbian.

Die Testpersonen haben eines gemeinsam: Alle haben russische Vorfahren, sind aber selbst in den USA aufgewachsen. Wie diese Gruppe Russisch und Englisch spricht, will Prof. Sabine Zerbian gemeinsam mit ihrer Doktorandin Yulia Zuban im Projekt „Grammatische Dynamiken im Sprachkontakt – ein komparativer Ansatz“ herausfinden. Weil Zerbian dabei mit fünf weiteren Instituten verschiedener deutscher Universitäten zusammenarbeitet, fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt bis 2021. Denn es ermöglicht erstmals vergleichende Erkenntnisse darüber, ob und wie bilinguale Menschen die Grammatiken in insgesamt fünf Sprachen abwandeln.

Sprache verändert sich ständig, auch bei monolingualen Sprechern und Sprecherinnen

Prof. Sabine Zerbian, Universität Stuttgart

Ein Wort gibt das andere

„Sprache verändert sich ständig, auch bei monolingualen Sprechern und Sprecherinnen“, sagt Zerbian. „Aber wir denken, dass in dieser Sprachkontakt-Situation besondere Dynamiken herrschen. Sprache dient der Kommunikation. Man möchte verstanden werden, deshalb wird man kreativ. Also schauen wir uns an, welche Besonderheiten sich dabei ergeben.“ Unter den zweisprachigen Menschen fokussiert sich das Team auf sogenannte Heritage-Sprecherinnen und -Sprecher. Das sind Menschen, die Zuhause die Sprache sprechen, die im kulturellen Erbe der
Familie wichtig ist, und außerdem Deutsch beziehungsweise Englisch als dominante Sprache, weil sie in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten aufwachsen. „Wir schauen uns die Entwicklungen in der Grammatik dieser Sprecher und Sprecherinnen an – sowohl in der Heritage-Sprache als auch in der dominanten.“

Russisches Sprachbeispiel

Untersuchen will die Forschergruppe die Heritage-Sprachen Griechisch, Türkisch und Russisch, gesprochen jeweils in Deutschland und in den USA. Das könnte nicht nur Veränderungen der Sprache allgemein sichtbar machen, sondern auch Erkenntnisse darüber bringen, wie Information über Sprache vermittelt wird. Oder darüber, wie es mit den Sprachrepertoires und sprachlichen Kompetenzen dieser Gruppen aussieht. „Wir sehen Mehrsprachigkeit nicht als Barriere, sondern als Reichtum und Sprachqualität mit besonderer Dynamik“, so Zerbian. Später könnten die Erkenntnisse zum Beispiel dazu dienen, Spracherkennungsprogramme zu verbessern, wenn etwa ein Sprecher von einer in eine andere Sprache wechselt.

Für ihr Teilprojekt Heritage-Russisch und Dominant-Englisch werden Zerbian und Zuban in den USA mit russischstämmigen Testpersonen Sprech-Situationen mit Bildergeschichten aufnehmen. Bei den 30 Teilnehmern handelt es sich um Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren und junge Erwachsene Ende 20. Anschließend untersuchen die Wissen-schaftlerinnen, wie sich die mündliche Sprache von der schriftlichen unterscheidet, und was passiert, wenn die Freiwilligen informell mit Freundinnen und Freunden sprechen, oder formell, etwa mit einer Polizistin.

Einsprachige dienen als Kontrollgruppe

Bevor die beiden in die USA fliegen, sind jedoch Absprachen mit den anderen Instituten nötig: Alle Beteiligten wollen ein einheitliches Verfahren festlegen, mit dem sie die Sprechsituationen aufnehmen und codieren. So entsteht eine gemeinsame Datenbasis, auf der später alle mit allen Texten arbeiten und forschen können. Dadurch lassen sich zum Beispiel auch Vergleiche ziehen zwischen Heritage-Griechisch in Deutschland und in den USA und Untersuchungen darüber anstellen, ob sich das Griechische in Deutschland und den USA in gleicher
Weise verändert.

Als Phonologin, die sich mit gesprochener Sprache beschäftigt, will Zerbian gezielt Melodie, Rhythmus und Betonung untersuchen. Aus der Forschung weiß man bislang lediglich: Es gibt in der Sprachmelodie immer wieder Veränderungen, und Sprachen beeinflussen sich gegenseitig. „Wir schauen uns an, wie Sätze phrasiert, Wörter gruppiert und wie Akzente verteilt werden, die dazu dienen, wichtige Aspekte kenntlich zu machen.“ Um die Ergebnisse einzuordnen, erhebt die Gruppe auch den Sprachgebrauch einsprachiger Menschen: Deutsche in Deutschland, Einsprachige in der Türkei und so weiter. „So sehen wir, wie Monolinguale dieselbe Aufgabe umsetzen.
Denn wir wissen zwar, was die Grammatikbücher sagen, aber tatsächlich gesprochene Standardsprache ist selten.“

Die Forscherin gibt ein Beispiel: Als sie die Bildergeschichte des Unfalls wiedergaben, betonten einige mehrsprachige Versuchspersonen in einem bereits aufgenommenen Pilotprojekt im Satz „Er ging zu ihr“ das Pronomen „ihr“. „Das erwartet man nicht“, so Zerbian, üblicherweise betone man in dem betreffenden Kontext die Präposition „zu“. „Wenn wir das vermehrt fänden, könnte die Hypothese lauten, dass es grammatische Gründe hat.“ Kurioserweise hat die Forschergruppe diese Betonung aber auch bei der einsprachigen Vergleichsgruppe beobachtet. „Das zeigt, wie wichtig Kontrollgruppen sind. Denn vielleicht handelt es sich hier um eine allgemeine Veränderung in der Sprache.“

Daniel Völpel

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Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

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