Die Menschmodellierer

Im Bilde

Mit digitalen Menschmodellen trägt das Exzellenzcluster SimTech zum medizinischen Fortschritt bei.

Seit Jahrhunderten werden in der Wissenschaft komplexe Phänomene durch Modelle beschrieben. Simulationen ermöglichen es uns, wichtige Aspekte der so beschriebenen Systeme zu verstehen, ihre Zustände vorherzusagen und zu entscheiden, wie solche Systeme zu kontrollieren sind. Simulationen haben sich zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Forschung und Entwicklung in vielen unterschiedlichen Gebieten entwickelt und tragen entscheidend zum technologischen Fortschritt in unserer modernen Gesellschaft bei. Seit 2007 hat der Exzellenzcluster „Simulation Technology“ (SimTech) an der Universität Stuttgart die Simulationswissenschaft hinsichtlich Modellen, Methoden und Computing-Aspekten aus Ingenieursperspektive in großer Breite und Tiefe vorangetrieben. Und sie mit seinem interdisziplinären und methodischen Profil als international sichtbaren Forschungsschwerpunkt etabliert.

Das jetzt im Rahmen der Exzellenzstrategie zur Förderung der universitären Spitzenforschung erfolgreiche neue Exzellenzcluster „Datenintegrierte Simulationswissenschaft“ (SimTech) steht – aufbauend auf den wissenschaftlichen Ergebnissen und Erkenntnissen des Exzellenzclusters SimTech – nun für eine Vielzahl neuer und zukunftsweisender Forschungsfragen und eine neue Klasse von Modellierungsund Berechnungsmethoden. Im Fokus stehen dabei insbesondere die Simulation von Mehrphasenströmungen, porösen Materialien, mechanischen Strukturen und biologischen Systemen sowie übergreifende Aspekte des maschinellen Lernens, der Analyse von Unsicherheiten und adaptiven und ubiquitären ITInfrastrukturen. Aber auch und vor allem im Bereich digitaler Menschmodelle trägt SimTech zum medizinischen Fortschritt bei.

Der Mensch ist ein hochkomplexes biologisches System, das sich durch ein fein aufeinander abgestimmtes, intelligentes Zusammenspiel einzelner Untereinheiten auszeichnet. Es gilt als energieeffizient, störungsrobust und hochgradig integriert. Ein aktuelles Projekt zur neuromuskulären Bewegungskontrolle untersucht die Erzeugung und Kontrolle aktiver biologischer Bewegungen und legt damit die Grundlagen für funktionale Assistenzsysteme im Bereich Rehabilitationsrobotik. Die Gruppe von Prof. Syn Schmitt und die Nachwuchsgruppe von Dr. Daniel Häufle vom Hertie Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen entwickeln gemeinsam Simulationsmodelle und technische Bioroboter.

Dank Simulationen lassen sich kleinste Bausteine des Lebens untersuchen. Prof. Johannes Kästner und sein Team gehen der Frage nach, wie Enzyme – etwa Salicylat-Dioxygenase – Sauerstoff aufnehmen und verwenden können, um Gift- und Abfallstoffe aus der Verdauung im Körper abzubauen und auszuscheiden. Solche biochemischen Vorgänge auf der kleinsten Skala können die Funktion von größeren Einheiten im Organismus – wie beispielsweise Organellen oder Zellen – erklären. In den Untersuchungen werden experimentelle Daten aus der Strukturbiologie mit quantenmechanischen Simulationen kombiniert.

Glioblastome sind ein bisher nicht heilbarer Typ von Gehirntumoren. In der Abteilung „Simulation großer Systeme“ von Prof. Miriam Mehl wird in Kooperation mit der Gruppe von Prof. George Biros (ICES, UT Austin) und der University of Pennsylvania an einem Softwaretool zur inversen Simulation des Tumorwachstums geforscht.

Eine vielversprechende Behandlungsmethode bei tief sitzenden Glioblastomen ist die „Konvektionsmethode“. Am Institut für Mechanik von Prof. Wolfgang Ehlers wird an mehrphasigen, kontinuumsmechanischen Modellen geforscht, um die Ausbreitung eines injizierten Medikaments im komplexen Gehirngewebe und dessen Wirkung auf den Tumor beschreiben zu können. Dazu werden in Kooperation mit der Gruppe von Prof. Markus Morrison vom Institut Zellbiologie und Immunologie Daten aus Tumorwachstumsexperimenten in die Modelle einbezogen.

Perfusions-MRT ist eine vielversprechende Methode, um die Multiple-Sklerose-Therapie unterstützend zu begleiten. Allerdings bleibt die genaue Charakterisierung von MS-Läsionen mit den heutigen Verfahren weiterhin schwierig. Detaillierte klein-skalige Simulationen der MR-Kontrastmittelausbreitung im Gehirn ermöglichen Einblicke in die Mechanismen, die zu den charakteristischen MRT-Bildern bei MS-Läsionen führen und helfen, diese besser zu interpretieren.

Der interdisziplinäre und simulationsorientierte Forschungsansatz zielt auf ein ganzheitliches, integratives Verständnis des neuromuskulären Systems ab. Der Fokus liegt dabei auf einem besseren Verstehen der dreidimensionalen Struktur und bio-physikalischen Funktion in Skelettmuskeln. Prof. Oliver Röhrle und sein Team beschäftigen sich mit der chemo-elektromechanischen Modellierung und der Entwicklung neuer Homogenisierungsmethoden für patientenspezifische Materialmodelle von Skelettmuskeln. Zudem entwickeln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorwärts-dynamische muskuloskelettale Systemmodelle.

Ein medizinisches Anwendungsgebiet aus der Strukturmechanik ist die numerische Simulation von Knochen-Implantat-Systemen. Dazu gehören künstliche Hüftgelenke und Implantate zur Frakturheilung. Diese Simulationen sollen es ermöglichen, die Entwicklung neuer Implantate zu unterstützen und deren Funktionalität und Design möglichst physiologisch zu gestalten, um einen optimalen Heilungsverlauf zu gewährleisten. Ziel ist der Einsatz im klinischen Alltag. In den Bereich der strukturmechanischen Simulation gehört auch die mikromechanische Untersuchung spongiösen Knochengewebes. Es befi ndet sich in den Gelenkbereichen und ist durch Implantationen besonders betroffen. Durch die detaillierten mechanischen Untersuchungen auf der Mikrostrukturebene erhofft man sich eine erweiterte Einsicht in die inneren Vorgänge des menschlichen Knochenwachstums und -umbaus.

Um komplexe biomechanische Modelle im Klinikalltag unterstützend einsetzen zu können, gewinnen projektionsbasierte Methoden der Modellreduktion einen stark zunehmenden Stellenwert. Durch den Einsatz geeigneter Reduktionsmethoden können hohe Rechenzeiten und -kosten aufwendiger numerischer Simulationen deutlich verringert werden. Dabei werden die komplexen theoretischen Grundlagen der Modellbildung durch vorab erzeugte Simulationen beibehalten (Offline-Rechnungen). Dies ermöglicht zeiteffiziente numerische Simulationen (Online-Rechnungen) mit veränderlichen, Patienten-spezifischen Parametern.

Mathematische Modelle für Herz-Kreislauf-Systeme gewinnen bei der Entwicklung von Medikamenten und Diagnosetechniken immer mehr an Bedeutung. Gegenüber herkömmlichen Methoden aus der Medizin liefert die mathematische Modellierung von Herz-Kreislauf- Systemen wichtige Erkenntnisse, ohne aufwendige Versuchsreihen durchführen zu müssen. Im Falle von Arteriosklerose, einer Gefäßerkrankung, die eine Reduzierung des Blutflusses durch Ablagerungen an den Gefäßwänden hervorruft, lässt sich mittels numerischer Simulationen ermitteln, ab welchem Verengungsgrad eine ausreichende Versorgung eines bestimmten Organs gefährdet ist. Die Arbeitsgruppe von Prof. Rainer Helmig beschäftigt sich in verschiedenen Projekten damit, mathematische Modelle für Herz-Kreislauf-Systeme zu entwickeln.

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