Gläserner Tumor

Wie soll das gehen?

Über die Systembiologie zur personalisierten Krebstherapie

Neue Krebsmedikamente, die auf den Patienten und seinen Tumor abgestimmt sind, lassen Betroffene heute meist deutlich länger leben. Doch bei vielen Krebskranken wirken selbst zielgerichtete Medikamente nicht. Am Stuttgart Research Center Systems Biology (SRCSB) der Universität Stuttgart analysieren Forscher die Tumorzelle als Ganzes in all ihrer Komplexität. Das Wissen nutzen sie, um die Wirksamkeit solcher Medikamente vorherzusagen – für neue Therapieansätze, aber auch, um Wirkstoffkandidaten schneller entwickeln zu können.

Es ist längst bekannt, dass Tumore so verschieden sind wie die Menschen, die von Krebs betroffen sind. Auch bei einem Menschen können sich die Krebszellen voneinander unterscheiden. Anstelle der chemischen Keule für alle, der Chemotherapie, treten daher zunehmend Krebsmedikamente, die gezielt individuelle, tumortreibende Veränderungen der Krebszelle angreifen. Doch auch solche personalisierten Therapien wirken oft nur kurzfristig, manchmal gar nicht.

Die Professoren Albert Jeltsch, Roland Kontermann und Markus Morrison (v. l. n. r.) sind am Stuttgart Research Center Systems Biology der Komplexität der Tumorzelle auf der Spur.
Die Professoren Albert Jeltsch, Roland Kontermann und Markus Morrison (v. l. n. r.) sind am Stuttgart Research Center Systems Biology der Komplexität der Tumorzelle auf der Spur.

Es reicht meist nicht aus, bei einem Patienten nach bestimmten Biomarkern zu suchen – etwa nach Genmutationen in seinem Tumor oder nach bestimmten, verstärkt oder vermindert gebildeten tumorrelevanten Proteinen –, um sicher zu sein, dass eine darauf angepasste Behandlung erfolgreich sein wird. Dafür ist die Tumorbiologie viel zu komplex. „Das ist, als ob ich ein Radio auseinanderbaue und alle Bauteile auf dem Tisch ausbreite. Die Funktion ergibt sich erst, wenn ich den ganzen Haufen in einer bestimmten Art und Weise in Verbindung bringe“, erklärt Markus Morrison, Leiter des Instituts für Zellbiologie und Immunologie. Künftig wird es darum gehen, nicht nur einzelne Puzzlestücke zu betrachten, sondern den Tumor in seiner Gänze zu verstehen, um gezielter wirkende Medikamente zu entwickeln. Diese Disziplin heißt Systembiologie. Morrisons zellbiologisch und systembiologisch geprägte Forschungsgruppe beschäftigt sich mit den komplexen Signalwegen in Zellen, die das Zellschicksal besiegeln, das heißt, ob sie sich teilt oder Selbstmord begeht. Bei Krebs sind diese Signalwege oft fehlerhaft und die Zellen fangen an, sich unkontrolliert zu teilen. Dabei weisen Tumorzellen in der Regel viele Mutationen in unterschiedlichen Signalwegen auf, die häufig miteinander vernetzt sind. Nur einen Signalweg medikamentös zu beeinflussen, kann das Tumorwachstum daher kaum aufhalten.

Signalgezwitscher in Tumorzellen verstehen

Normalerweise scannt jede Zelle über Rezeptoren ununterbrochen ihre Umgebung ab. Die Information über äußere Reize, etwa einen Wachstumsreiz oder ein Stresssignal, leitet sie innerhalb der Zelle über eine Reihe von Botenmolekülen weiter. Währenddessen verzweigt sich der Informationsfluss, wird verstärkt oder nimmt Informationen aus anderen Signalwegen auf. Erreicht die Summe aller Signale einen bestimmten Schwellenwert, münden die Informationsflüsse in den Befehl, entweder die Zelle auf Wachstum einzustellen oder den programmierten Zelltod einzuleiten.
Bei all dem Signalwirrwarr kann man leicht den Überblick verlieren. Morrisons Gruppe füttert daher leistungsfähige Computer mit gewaltigen Datenmengen. Daten aus eigenen Zell- und Tierexperimenten zur Menge von Signal-Botenstoffen verknüpfen sie mit Informationen, wie die Botenstoffe miteinander vernetzt sind, und ergänzen sie um klinische Daten von Krebskranken und deren Tumormerkmalen. Daraus können sie – analog zum Radio – Schaltbilder für Krebszellen aufstellen und am Computer das Signalnetzwerk und Änderungen daran virtuell ablaufen lassen. „Basierend auf den mathematischen Modellen versuchen wir vorherzusagen, ob bestimmte Krebszelllinien oder Tumore auf ein Medikament ansprechen werden oder welches die bestmögliche Strategie ist, um den Tumor wieder sensitiver zu machen“, sagt Morrison.

Bei Darmkrebs- und Hautkrebszellen in Kultur liegen die Forscher mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 bis 85 Prozent mit ihrer Vorhersage richtig. Das sei schon sehr gut, so Morrison. Die Simulationen überprüft Morrisons Team wiederum experimentell, so dass sie die Modelle immer genauer einstellen können. Künftig könnten die Vorhersagen helfen, Patienten vor unwirksamen Therapien und ihren Nebenwirkungen zu bewahren. Doch das virtuelle Signalnetzwerk lässt sich auch dazu nutzen, neue Wirkstoffe schneller und kostengünstiger zu entwickeln, weil ihre Wirkung auf das Signalnetzwerk von Tumorzellen am Computer simuliert werden kann. Wollte man alle möglichen Eingriffe in das Netzwerk oder Änderungen am Wirkstoff rein experimentell untersuchen, wäre dies enorm zeitaufwendig und praktisch nicht zu bewältigen.

Todesbote neu designt

Einen vielversprechenden Wirkstoffkandidaten haben die Gruppen „Biomedizinische Entwicklung“ von Roland Kontermann und „Zellbiologie“ von Morrisons Vorgänger Klaus Pfizenmaier am Institut zusammen entwickelt. Dabei handelt es sich um ein Fusionsprotein, das Krebszellen gezielt in den Selbstmord, die sogenannte Apoptose, treibt. Als Vorbild haben sich die Biologen das Protein TRAIL (für TNF-related apoptosis inducing ligand) genommen, das von bestimmten Immunzellen gebildet wird und in Krebszellen Apoptose auslöst, aber auf normale gesunde Zellen kaum einen Effekt hat. „Tumorzellen stehen quasi schon am Abgrund. Man muss sie nur ein bisschen anschubsen. Bei gesunden Zellen muss man sich schon mehr anstrengen, weil sie sich besser schützen können“, erklärt Kontermann.
Klinische Studien mit dem natürlichen Todesboten verliefen bisher allerdings enttäuschend.

Um die Zelltodmaschinerie in Krebszellen effektiver anzustoßen, haben die Protein-Ingenieure um Kontermann zunächst die drei Untereinheiten von TRAIL gentechnisch zu einer einzigen Molekülkette aneinandergehängt. Zwei dieser Ketten fusionierten sie, so dass das entstandene Designerprotein gleich sechs Todesrezeptoren auf den Krebszellen aktiviert. Anschließend hängten sie noch ein Antikörper-Fragment an, das spezifisch an bestimmte Oberflächenmoleküle auf Tumorzellen bindet und so den Wirkstoff zielsicher an seinen Wirkungsort dirigiert. „Das sieht in Kulturen von Darmkrebs- und Hautkrebszellen vielversprechend aus. Auch in Maus-Tumormodellen zeigt das TRAIL-Fusionsprotein sehr gute Aktivitäten“, sagt Kontermann. Mittlerweile hätten drei Firmen Interesse angemeldet, den Wirkstoff in klinischen Studien weiterzuentwickeln. Unterdessen versuchen die Forscher um Kontermann und Morrison, Tumorzellen durch eine Kombination des TRAIL-Fusionsproteins mit Chemotherapeutika und neueren Substanzen vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen, um ihnen so den Todesstoß zu verpassen. Parallel hierzu erweitert Morrisons Team seine Vorhersagemodelle auch für die Kombinationstherapie.

Die Forscher rücken den Tumorzellen per Mikroskop und Bildanalyse zu Leibe, um – frei nach Goethe – zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

Fehlgeleitete Genschalter als Krebsursache

Einen anderen Ansatz auf dem Weg zur personali­sierten Krebstherapie verfolgt Albert Jeltsch, Leiter der Abteilung Biochemie am Institut für Biochemie und Technische Biochemie. Der 52-Jährige beschäf­tigt sich mit den reversiblen Mechanismen, die re­ geln, wann im Zellkern welche Gene ein- und ausge­schaltet werden, ohne dabei die Erbinformation zu verändern. Dieser zweiten Informationsebene über der DNA, der Epigenetik, ist es zu verdanken, dass unser Körper die unterschiedlichsten Zelltypen hervorbringt und Zellen flexibel auf Umwelteinflüsse wie Hunger oder Traumen reagieren können.

Manchmal treten hierbei auch Fehler auf. Wer­den versehentlich Gene stumm geschaltet, die das Wachstum und die Zellteilung kontrollieren, oder wenig aktive Wachstumsgene angeschaltet, kann das die Krebsentstehung befeuern. Ob Gene abgelesen werden, hängt von kleinen chemischen Gruppen an der DNA oder den DNA-Verpackungsproteinen im Zellkern ab, die von Enzymen dort angehängt oder entfernt werden. Heften Enzyme Methylgruppen an den DNA-Baustein Cytosin im Startbereich eines Gens, versperrem diese in der Regel der Gen-Le­semaschinerie den Weg. Andererseits bewirken Methyl-, Acetyl-, Phosphat oder Ubiquitin-Anhängsel an den Verpackungsproteinen, den His­tonen, dass sich der zwei Meter lange DNA-Faden perlenschnurartig mal fester und mal loser um einzelne Histonkomplexe wickelt. Gene auf dicht gepackten Erbgutbereichen werden ebenfalls nicht abgelesen und sind quasi stumm geschaltet. Mehr als 60 verschiedene epigenetische Marker kennen die Forscherinnen und Forscher inzwischen. Hinzu kommt, dass bestimmte Modifikationen meist in Gruppen zusammenwirken, die sich ge­genseitig beeinflussen. „Wir verfügen über 100-mal mehr epigenetische als genetische Informationen, weil der menschliche Körper aus etwa 200 Zell­typen besteht, die unterschiedliche epigenetische Marker tragen“, sagt Jeltsch. Eines der Ziele des Biochemikers ist es, etwas Ordnung in den Dschun­gel an Modifikationen zu bringen und zu verstehen, welche Kombination epigenetischer Marker sich wie auswirkt und womöglich Krebs fördert.

Wenn wir verstehen, was da passiert, können wir bei Patienten, die diese Mutation haben, im Idealfall die Therapie danach richten.

Prof. Albert Jeltsch, Universität Stuttgart

Katalogisierungswerkzeug für Veränderungen

Einen ersten systembiologischen Schritt in diese Richtung ging die Gruppe um Jeltsch, indem sie ein neues Werkzeug entwickelt hat, um erstmals zwei benachbarte epigenetische Marker auf Histonen gleichzeitig detektieren zu können. Es ist inzwischen zum Patent angemeldet. Der Clou: Jeltschs Team fusionierte zwei unterschiedliche Lesedomä­nen epigenetischer Proteine, die sich spezifisch an Histone heften, wenn diese bestimmte Marker tragen. Theoretisch können die Forscher verschiedene Lesedomänen beliebig miteinander kombinieren und so alle möglichen Paar-Kombinationen von Histonmodifikationen über das komplette Erbgut hinweg analysieren. Bislang mussten Forscher epigenetische Markerpaare in zwei aufeinanderfolgenden Schritten mit spezifischen Antikörpern aufspüren. „Mit unserem Ein-Schritt Prozess sind wir schneller und brauchen weniger Ausgangsmaterial“, sagt Jeltsch. Außerdem könnten die Eigenschaften von Antikörpern von Charge zu Charge variieren, so dass die Experimente nicht immer reproduzierbar seien.
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Jeltsch sind Methyltransferasen, die Methylgruppen an DNA oder Histone anheften. Bei einigen Krebskranken hat man Mutationen in diesen epigenetischen Enzymen gefunden. Das Team um Jeltsch interessiert, wie sich diese Mutationen auf die Funktion der Methyltransferasen auswirken. „Wenn wir verstehen, was da passiert, können wir bei Patienten, die diese Mutation haben, im Idealfall die Therapie danach richten“, sagt Jeltsch. So könnten bei manchen Mutationen Methyltransferase -Hemmer sinnvoll sein. Das wäre im wahrsten Sinne personalisierte Medizin.
So fanden die Forscher beispielsweise erst kürzlich heraus, dass die häufigste Mutation der DNA-Methyltransferase DNMT3A bei einer bestimmten Form der Leukämie zu einem veränderten DNA-Methylierungsmuster führt. Da Methyltransferasen über das gesamte Genom hin­weg wirken, könnte ein verändertes Methylierungsmuster viele für Krebs relevante Gene betreffen. In dem Experiment hatten die Forscher zunächst nur 56 verschiedene DNA-Stellen untersucht. Nun geht es darum, im gesamten Erbgut herauszufinden, welche Methylierungsstellen fehlerhaft markiert sind und welche Gene davon betroffen sind. „Die experimentell erbrachten Einzeldaten müssen dann wieder miteinander verbunden werden. Dafür braucht es die Kollegen von den Systemwissenschaften, die das Ganze als Netzwerk betrachten, um herauszufinden, wie all diese Modifikationen zusammenhängen und zu einer Krankheit wie Krebs führen“, sagt Jeltsch. Wer Einblick in das Netzwerk der Tumorzelle hat und weiß, an welchen Stellschrauben er drehen kann, findet auch eher die Achillesferse des Tumors.

Zellschicksal: Teilung oder Selbstmord?

Fachgrenzen einreißen für neue Einsichten

Um den fachlichen Austausch zwischen Biowissenschaftlern, Systemwissenschaftlern und Ingenieuren zu erleichtern, wurde an der Universität bereits 2005 das bundesweit erste Zentrum für Systembiologie eingerichtet. Die jetzige Nachfolgeorganisation, das SRCSB, umfasst Mitglieder aus 19 Instituten und acht Fakultäten. Sowohl Jeltsch als auch Morrison gehören dem sechsköpfigen Führungsgremium an. Dabei konzentriert sich das Zentrum nicht nur auf neue Wirkstoffe und Methoden zur Krebsbehandlung, sondern auch auf Anwendungen in der industriellen Biotechnologie. Beispielsweise manipulieren andere SRCSB-Mitglieder gezielt den Stoffwechsel von Mikroorganismen, um gewünschte Produkte herzustellen.

Dem Austausch zuträglich sind die regelmäßigen Treffen am Zentrum wie die Seminarreihe „Systembiologie“, Tagungen, aber auch Praktika und Workshops zum Thema für den wissenschaftlichen Nachwuchs. „Da kommt man zwangsläufig mit den Inhalten der anderen Disziplinen in Berührung, was natürlich den eigenen Horizont erweitert“, findet Morrison. Viele interdisziplinäre Projekte wären ohne das SRCSB gar nicht zustande gekommen, sind sich Morrison und Jeltsch einig. Einerseits wüssten die Biowissenschaftler sonst gar nicht, was etwa die Systemwissenschaftler an der Universität gerade erforschen. Andererseits sei es ein Vorteil bei Drittmittelanträgen. „Die Expertise für mathematische Modelle zur Vorhersage von Therapieansprechen würde man nicht an einem Institut für Zellbiologie vermuten. Das SRCSB hingegen kann einen Gutachter davon überzeugen, dass die Expertise vor Ort da ist“, sagt Morrison. In der aktuellen fünfjährigen Förderperiode, die Ende des Jahres ausläuft, gelang es den Mitgliedern, über 60 Projekte im Bereich der Systembiologie und synthetischen Biologie einzuwerben.

In der Regel gibt es niemanden, der sich ausschließlich damit beschäftigt und die Leute gut antrainiert.

Prof. Markus Morrison, Universität Stuttgart

Die Forschung von Jeltsch und Morrison hat auch von der Sammlung von Mikroskopen und Großgeräten zur Bildanalyse und Zellsortierung profitiert, die die Institute einbringen und die ein Verantwortlicher des SRCSB zentral verwaltet und wartet. Dieser berät und unterstützt außerdem die Forschenden bei ihren Messungen. „In der Regel gibt es niemanden, der sich ausschließlich damit beschäftigt und die Leute gut antrainiert“, erzählt Morrison. In der kommenden Förderperiode will das SRCSB eine ähnliche Technologieplattform etablieren, um Proteine und Stoffwechselprodukte systembiologisch untersuchen zu können. In den vergangenen Jahren haben sich die Biowissenschaften an der Universität Stuttgart immer stärker gewandelt, von den klassischen Themengebieten hin zu systemorientierten Forschungsansätzen. Das spiegelt sich allein schon in neuen Lehrstühlen wie Computational Biology oder künftig Systembiologie. „Wenn wir in Stuttgart den Fokus auf Systembiologie setzen und international Strahlkraft haben wollen, geht das nur im Rahmen einer Struktur wie dem SRCSB“, ist Morrison überzeugt. Davon profitieren könnte auch die Krebsforschung.

Helmine Braitmaier

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