Die Belastung mit Feinstaub und Stickoxiden am Neckartor in Stuttgart beschäftigt Stadt und Politik. Die Werte sind so hoch, dass sie gesundheitsschädigend sein können. Aber wer hält sich dort tatsächlich dauernd im Freien auf? Innerhalb eines EU-Forschungsprojekts ermitteln Prof. Rainer Friedrich und sein Team am Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart, welchen Schadstoffen die Menschen dort ausgesetzt sind, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen. Die Ergebnisse zeigen Handlungsbedarf nicht nur beim Straßenverkehr.
Die Gesundheit eines Menschen wird von zwei Faktoren maßgeblich beeinflusst: Dem Genom, also den Erbanlagen, und dem Exposom. Darunter verstehe man jegliche Umwelteinflüsse, denen man während seines Lebens ausgesetzt ist, erklärt Rainer Friedrich. Hier setzt das EU-Projekt HEALS (Health and Environment-wide Associations based on Large population Surveys) an. Ziel ist es, mögliche Zusammenhänge zwischen Umwelteinflüssen und Gesundheitsschäden aufzudecken. Zu dem Forschungsprojekt mit 30 beteiligten Partnern tragen Friedrich und zwei Mitarbeiterinnen die Berechnungsbasis des Exposoms bei. „Wir sind dafür zuständig, Daten auszuwerten und Modelle zu entwickeln, mit denen sich die Beeinträchtigung durch Schadstoffen für Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Eigenschaften berechnen lässt, also zum Beispiel nach Geschlecht oder Alter, dem Beruf oder dem Aufenthaltsort“, erklärt Friedrich. „Das ist absolut neu.“ Alle bisherigen Studien hätten höchstens jährliche Belastungen betrachtet und sich auf die Konzentrationen in der Außenluft beschränkt.
Wir gehen davon aus, dass für chronische Erkrankungen und eine verringerte Lebenserwartung die Exposition über die gesamte Lebenszeit und nicht kurzzeitige hohe verantwortlich sind.
Prof. Rainer Friedrich, Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart
Um zu seinen Aussagen zu gelangen, verwendet das Team Basisdaten aus Datenbanken, die verraten, wo sich welche Bevölkerungsgruppe wie lange aufhält – am Arbeitsplatz, in der Wohnung, im Auto – und welchen Aktivitäten sie dort nachgeht. Für Europa erstellte das Team daraus eine Zeit-Aktivitäten- Matrix. „Wir möchten für jede Person, die nach den jeweiligen Eigenschaften charakterisiert ist, die Exposition für die vergangene Lebenszeit abschätzen und auch Szenarien für die zukünftige erstellen“, sagt Friedrich. Dazu verknüpft das Team am IER die Zeit-Aktivitäten-Matrix mit den Schadstoffkonzentrationen der einzelnen Aufenthaltsorte. Und das nicht nur für Feinstaub und Stickstoffdioxid, sondern auch für Ozon, Schwermetalle und elektromagnetische Strahlung.
Außenluftquellen
Für den toxischsten dieser Schadstoffe, Feinstaub – in englischer Sprache particulate matter (PM) – mit einem Durchmesser bis zirka 2,5 μm oder auch PM2.5 , zeigte sich, dass etwa 60 Prozent aus Außenluftquellen stammen. Allen voran seien hier der Straßenverkehr, aber auch die Abluft von Holzfeuerung genannt. Zudem verursachen Gülle und Dünger aus der Landwirtschaft Ammoniakemissionen und damit sekundären Feinstaub.
Innenraumquellen
Wichtigste Innenraumquellen sind hingegen Passivrauchen, gefolgt vom Braten von Speisen sowie dem Betreiben von Holzöfen und dem Abbrennen von Kerzen und Räucherstäbchen. Mit der beschriebenen Methodik können die Forscher die lebenslange Exposition mit PM2.5 berechnen. Mit dem starken Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit ging auch eine deutliche Steigerung der Emissionen von Feinstaub und von Vorläufergasen einher, die in der Atmosphäre Feinstaub bilden.
Erst in den 1980er-Jahren kam die Trendwende. Nach 1990 verringerte sich die Feinstaubexposition deutlich. Gründe waren die Wiedervereinigung mit dem Zusammenbruch von Teilen der Schwerindustrie in Ostdeutschland sowie die strengeren Grenzwerte für Luftschadstoffemissionen. Aber auch Rauchverbote in Innenräumen und freiwilliger Verzicht auf das Rauchen zu Hause gehören dazu. Seit dem Maximum in den 1980er-Jahren ist die Exposition mit PM2.5 um fast die Hälfte zurückgegangen.
Diejenigen, die vorzeitig sterben, verlieren im Durchschnitt zehn Lebensjahre
Rainer Friedrich
Sieben Monate kürzere Lebenserwartung
Die Ergebnisse bilden die Basis für die Berechnung der Gesundheitsrisiken. Für einen jetzt 70 Jahre alten Mann etwa ergibt sich durch das Exposom mit PM2.5 eine durchschnittliche Verkürzung der Lebenserwartung von sieben, plus/minus drei Monaten – wenn man die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen für Erwachsene annimmt. Die verlorene Lebenszeit verhält sich zudem proportional zur lebenslangen Feinstaubbelastung. „Diejenigen, die vorzeitig sterben, verlieren im Durchschnitt zehn Lebensjahre“, sagt Friedrich. Weil die Luft inzwischen weniger stark belastet ist als in den 1960er- bis 1980er-Jahren, sähe es vor allem für die nach 1970 Geborenen besser aus: Ihr Verlust an Lebenserwartung wird weniger als halb so hoch sein als derjenige der jetzt 70-Jährigen. Aus Sicht des Wissenschaftlers macht es daher mehr Sinn, Langzeit-Durchschnittswerte zu reduzieren, als kurzzeitige Belastungsspitzen zu vermeiden. Bei den Strategien zur Minderung sollten auch die Innenraumquellen einbezogen werden: und beispielsweise auf das Rauchen in den vier Wänden verzichtet und die Dunstabzugshaube beim Braten eingeschaltet werden.
Daniel Völpel