Mit dem Muskel auf Du und Du

Forschung Erleben

Simulationen der komplexen Abläufe im menschlichen Bewegunsapparat

Wie Nervensystem, Muskelzellen und komplette Muskelgruppen bei Bewegungsabläufen zusammenspielen, versteht man noch nicht im Detail. Dreidimensionale Simulationen der Skelettmuskeln, wie sie von Biomechanikern der Universität Stuttgart erforscht werden, sollen das ändern – und helfen bei der Entwicklung von Ansteuerungen für Exoskelette und Neuroprothesen.

Mit der Elektromyografie, einer Art EKG für den Muskel, lassen sich die elektrischen Gesamtpotenziale von Bewegungen messen.
Mit der Elektromyografie, einer Art EKG für den Muskel, lassen sich die elektrischen Gesamtpotenziale von Bewegungen messen.

Der Griff zur Kaffeetasse am Morgen sieht so einfach aus. Die meisten schaffen das sogar im schlaftrunkenen Zustand. Doch was allein für diese Bewegung im menschlichen Körper ablaufen muss, ist keineswegs trivial. Damit die Hand nach der Tasse greift, muss das Gehirn den Ablauf in den Nervenzellen des Rückenmarks initiieren. Die elektrischen Signale erreichen dann über die Nervenfasern die sogenannten motorischen Endplatten, die die Erregung auf die Muskelfasern der Skelettmuskeln weitergeben, die wiederum für willentliche Bewegungen verantwortlich sind. Dazu wird das elektrische Signal auf den Nervenfasern in eine mechanische Kraft umgewandelt: Kalzium-Ionen dienen als Botenstoff, der bestimmte Zellen zur Kontraktion anregt. Die mechanische Krafterzeugung auf Zellebene überträgt sich über die Muskeln an die Sehnen, mit dem Ergebnis, dass sich der Arm Richtung Tasse bewegt. Dann muss die Hand mit der genau richtig dosierten Kraft zugreifen, bevor die Bewegung der Tasse zum Mund erfolgt. Viele Muskelgruppen sind an diesem einfachen Ablauf beteiligt, gesteuert durch unzählige  Nervenzellen. Wie komplex dieses Bewegungs-muster tatsächlich ist, wird immer dann besonders deutlich, wenn es durch Unfall- oder Krankheitsfolgen eingeschränkt ist oder wenn Ingenieure versuchen, einem Roboter menschenähnliche Bewegungen beizubringen.

Neuromuskuläre Fragezeichen

Jede Bewegung beruht auf physikalischen und biochemischen Prozessen in den Zellen, die, bezogen auf komplette Muskelgruppen und in ihrem Zusammenspiel mit dem zentralen Nervensystem, bislang nicht gänzlich erforscht sind. Das will Oliver Röhrle, Professor für Kontinuums-Biomechanik und Mechanobiologie an der Universität Stuttgart, mit einem Team aus Experten verschiedener Fachrichtungen ändern. „Unser interdisziplinärer Ansatz zielt auf ein ganzheitliches Verständnis des neuro-muskulären Systems ab“, so Röhrle. Simulationen sind dabei das Mittel der Wahl; mit im Boot sind darum Informatiker, Mathematiker und Visualisierungsspezialisten. 
Sportwissenschaftler, Elektrotechniker, Biologen und Physiologen stellen die Verbindung zu anwendungsbezogenen Fragestellungen her. Letztlich, sagt Röhrle, gehe es in ihrer Arbeit um die Frage, „wie Bewegung entsteht“.

Wie entsteht Bewegung: Das interdisziplinäre Team um Prof. Oliver Röhrle arbeitet am ganzheitlichen Verständnis des neuromuskulären Systems.
Wie entsteht Bewegung: Das interdisziplinäre Team um Prof. Oliver Röhrle arbeitet am ganzheitlichen Verständnis des neuromuskulären Systems.

„Mit der Elektromyografie, einer Art EKG für den Muskel, lassen sich die elektrischen Gesamtpotenziale solcher Bewegungen messen, zum Beispiel an der Oberfläche von Arm oder Bein“, erläutert der Mathematiker. „Auf diese Weise bekommen wir aber nur stark verrauschte Signale und tun uns schwer, davon ausgehend auf einzelne muskuläre Abläufe rückzuschließen.“ Gerade beim Oberschenkel kommt die Elektromyografie an ihre technischen Grenzen, weil sie nur ein bis zwei Zentimeter tief messen kann – muskulär so richtig interessant wird es allerdings erst darunter. „Wir wollen mit realistischen Simulationen der Bewegungen und der elektrischen Potenziale deutlich tiefer kommen und so Ergebnisse liefern, die die Kolleginnen und Kollegen dann validieren können“, sagt Röhrle.

Neuronale Ansteuerung im Modell

Seine Arbeitsgruppe rechnet mit dreidimensionalen Skelettmuskelmodellen und geht bei der Simulation nach dem Schema vor: „Aktivierung rein, Bewegung raus“. Diese Modelle sind sehr detailliert, berücksichtigen also eine hohe Zahl an Muskelfasern und deren neuronale Ansteuerung. „Unter den vielleicht 20 Forschungsgruppen weltweit, die Skelettmuskeln dreidimensional modellieren, sind wir die Einzigen, die so verfahren“, erläutert der Wissenschaftler. Noch ist es Grundlagenforschung, aber künftig werden Simulationen in verschiedenen Bereichen davon profitieren, so etwa die Sport-wissenschaften. 

Aber auch für die möglichst natürliche Anbindung von Prothesen oder für Crashtests könnten die Ergebnisse hilfreich sein. Ein Beispiel für ein Forschungs-projekt, das bereits näher an der Anwendungsreife ist, heißt KONSENS NHE. Hier sind neben Röhrles Team auch das Universitätsklinikum und die Universität Tübingen sowie die Hochschule Reutlingen beteiligt. Ziel des 2017 begonnenen, auf drei Jahre angelegten Projekts ist ein alltagstaugliches Exoskelett für die Hand, das sich über die Nerven steuern lässt. „Bei der  Entwicklung dieser Orthese haben wir die Situation von Schlaganfallpatienten vor Augen, die häufig Bewegungseinschränkungen der Gliedmaßen haben, dauerhaft oder vorübergehend“, sagt Dr. Leonardo Gizzi, der in Röhrles Team für das Projekt verantwortlich zeichnet. Die Orthese soll dafür sorgen, dass ein Schlaganfallpatient zum Beispiel wieder fest genug greifen und die Hand uneingeschränkt bewegen kann. Als Ausgangspunkt diente der Demonstrator eines hirngesteuerten Hand-Exoskeletts, der von einem internationalen Team unter Führung der Universität Tübingen entwickelt wurde. Damit gelang es, die Funktion der Hand bei Querschnittsgelähm-ten fast vollständig wiederherzustellen. Allerdings war dieses Exoskelett nicht mobil nutzbar und sein Einsatz erforderte geschultes Personal. Das aktuelle Projekt soll deswegen ein tragbares, alltagstaugliches Exoskelett hervorbringen: Ist ein Schlaganfallpatient zum Beispiel halbseitig gelähmt, soll er es selbst anlegen können.

Im Rahmen des Forschungsprojekts KONSENS NHE entwickeln Leonardo Gizzi und sein Team ein über die Nerven gesteuertes Exoskelett für die Hand. Nicht zuletzt, um Schlaganfallpatienten den Alltag zu erleichtern.
Im Rahmen des Forschungsprojekts KONSENS NHE entwickeln Leonardo Gizzi und sein Team ein über die Nerven gesteuertes Exoskelett für die Hand. Nicht zuletzt, um Schlaganfallpatienten den Alltag zu erleichtern.

Unser interdisziplinärer Ansatz zielt auf ein ganzheitliches Verständnis des neuromuskulären Systems ab.

Prof. Oliver Röhrle, Universität Stuttgart

Derzeit entstehen im Projekt Hardware und elektronische Steuerung, Gizzi ist für die Auslegung der elektro-myografischen Elektroden am Unterarm zuständig. „Wir suchen die optimale Anordnung mit möglichst wenigen Sensoren“, sagt der Wissenschaftler. Dann folgen umfangreiche Funktionstests, zunächst mit gesunden Probanden. Sobald die Projekt-beteiligten so weit sind, dass sie die Orthese testweise einem Patienten anlegen können, geht die Arbeit erst richtig los: „Das wird eine entscheidende Phase, denn letztlich können uns nur Betroffene sagen, wie sie den Umgang mit der Orthese erleben“, ver-deutlicht Gizzi. „Aussehen, Gewicht, Bedienung – all das wird mit hineinspielen und sich womöglich stark von unseren Erwart-ungen unterscheiden.“ Dann geht es nicht mehr nur um Technik und Funktion, wie Gizzi mit einem Vergleich zur Prothetik erläutert: „Dort hat man häufig die Erfahrung gemacht, dass ältere Patienten sich einen möglichst natürlich aussehenden künstlichen Ersatz wünschen, während für Kinder eine Prothese nicht roboterhaft und technisch genug aussehen kann.“

Michael Vogel

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