Asphalt, Erdboden, Gehirn und Knochen haben etwas gemeinsam: Sie gelten als sogenannte poröse Medien. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Stuttgart nutzen die Ähnlichkeiten im physikalischen Verhalten, um mit Simulationen die medizinische Forschung zu unterstützen – zum Beispiel durch Fortschritte beim Verständnis der Multiplen Sklerose oder bei der Behandlung der Osteoporose.
Das Gehirn von Kleinkindern wird oft mit einem Schwamm verglichen, weil sie in diesem Alter alle Informationen begierig aufsaugen. Über dieses sprachliche Bild hinaus gibt es jedoch noch eine viel stärkere – physikalische – Analogie zwischen Gehirn und Schwamm: Beides sind poröse Medien. Darunter sind Strukturen zu verstehen, die Hohlräume enthalten, durch die Flüssigkeiten strömen können. Auch Knochen gehören zur Familie der porösen Medien, ebenso wie Asphalt oder der Boden im Garten. Dies erklärt, warum sich Timo Koch als Ingenieur mit medizinischen Fragestellungen beschäftigt. Und es erklärt außerdem, warum er am Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung der Universität Stuttgart promoviert, wo eigentlich an Strömungen und Transportprozessen im irdischen Untergrund geforscht wird. Bei den medizinischen Themen, die Koch in Zusammenarbeit mit Prof. Bernd Flemisch am Lehrstuhl von Prof. Rainer Helmig bearbeitet, sind zwar ganz andere Parameter, Zeit- und Größenskalen relevant. Doch letztlich geht es auch hier um Strömungsmechanik – also darum, die Ausbreitung einer Flüssigkeit in den Poren eines Mediums physikalisch zu beschreiben. Beim Gehirn, jenem „porösen Medium“, an dem Koch forscht, bilden die Zellen und Blutgefäße die Struktur, in der sich die Poren – der sogenannte Zellzwischenraum – befinden.
Immunabwehr auf Abwegen
Anlass für Kochs wissenschaftliche Arbeit ist die Multiple Sklerose (MS), eine Autoimmunerkrankung, bei der die Nerven geschädigt werden. Laut der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft betrifft sie weltweit rund 2,5 Millionen Menschen, allein in Deutschland sind es mehr als 200.000. In der Regel erfolgt die Diagnose zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Anfangs sind die Symptome meist unspezifisch: taube Stellen auf der Haut, ein Kribbeln oder ein Taubheitsgefühl in den Beinen, verschwommenes Sehen. Nach einigen Tagen ist meist wieder alles normal. Die Beeinträchtigungen treten oft in Schüben auf, die sich bei vielen Betroffenen durch Medikamente mildern und in ihren zeitlichen Abständen vergrößern lassen. Die Erkrankten sind jedoch motorisch eingeschränkt, was schlimmstenfalls zum Leben im Rollstuhl führen kann. Und sie leiden unter Begleitsymptomen wie etwa einer raschen Erschöpfbarkeit. Die Krankheit ist unheilbar.
Bei MS-Patienten funktionieren Teile der Immunabwehr nicht korrekt; sie richtet sich gegen den eigenen gesunden Körper. Durch diese Fehlsteuerung kommt es zu Schäden und Störungen an Nervenzellen und -fasern. „Für die Diagnose und die Beurteilung des Krankheitsverlaufs setzen Mediziner unter anderem die Kernspintomografie bei der Untersuchung des Gehirns ein“, erklärt Timo Koch. „Auf solchen Aufnahmen sind Bereiche zu erkennen, in denen die Blut-Hirn-Schranke geschädigt ist. In diesen sogenannten Läsionen sind die Kapillargefäße sehr viel durchlässiger als in gesundem Hirngewebe.“ Mittels Magnetresonanztomografie (MRT) lässt sich auch regelmäßig überprüfen, ob neue Läsionen hinzugekommen und andere abgeheilt sind, so dass die Mediziner die Therapie anpassen können. In der Multiple-Sklerose-Forschung kommt zudem eine Variante dieses bildgebenden Verfahrens zum Einsatz, die sogenannte Perfusions-MRT.
Hierbei wird dem Patienten ein Kontrastmittel verabreicht dessen zeitliche Ausbreitung sich im Gehirn verfolgen lässt: „An der Art der Veränderung des MRT-Signals kann man ablesen, wo das Kontrastmittel aus den Kapillaren in den Zellzwischenraum austritt“, erläutert Koch. Den Pfad über diese undichten Stellen würden auch die Zellen der Immunabwehr nehmen, um den unerwünschten Schaden an den Nervenzellen und -fasern anzurichten. Kochs Kooperationspartner am ARTORG Center for Biomedical Engineering der Universität Bern und in der Neuroradiologie des Inselspitals Bern haben festgestellt, dass der genaue Verlauf des MRT-Signals anzeigt, ob eine Läsion akut, abheilend oder vollständig ausgeheilt ist. Weil die MRT-Aufnahmen nur eine sehr geringe Auflösung haben, ist es dem Schweizer Forschungsteam nicht möglich, aus den Daten zu ermitteln, wie viel Kontrastmittel an einer bestimmten Stelle tatsächlich ausgetreten ist. Hier kommt Timo Koch ins Spiel: Er simuliert die Ausbreitung des Kontrastmittels am Computer.
„Für die Diagnose und die Beurteilung des Krankheitsverlaufs setzen Mediziner unter anderem die Kernspintomografie bei der Untersuchung des Gehirns ein“,
Doktorand Timo Koch
Das Gehirn von Kleinkindern wird oft mit einem Schwamm verglichen, weil sie in diesem Alter alle Informationen begierig aufsaugen. Über dieses sprachliche Bild hinaus gibt es jedoch noch eine viel stärkere – physikalische – Analogie zwischen Gehirn und Schwamm: Beides sind poröse Medien. Darunter sind Strukturen zu verstehen, die Hohlräume enthalten, durch die Flüssigkeiten strömen können. Auch Knochen gehören zur Familie der porösen Medien, ebenso wie Asphalt oder der Boden im Garten. Dies erklärt, warum sich Timo Koch als Ingenieur mit medizinischen Fragestellungen beschäftigt. Und es erklärt außerdem, warum er am Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung der Universität Stuttgart promoviert, wo eigentlich an Strömungen und Transportprozessen im irdischen Untergrund geforscht wird. Bei den medizinischen Themen, die Koch in Zusammenarbeit mit Prof. Bernd Flemisch am Lehrstuhl von Prof. Rainer Helmig bearbeitet, sind zwar ganz andere Parameter, Zeit- und Größenskalen relevant. Doch letztlich geht es auch hier um Strömungsmechanik – also darum, die Ausbreitung einer Flüssigkeit in den Poren eines Mediums physikalisch zu beschreiben. Beim Gehirn, jenem „porösen Medium“, an dem Koch forscht, bilden die Zellen und Blutgefäße die Struktur, in der sich die Poren – der sogenannte Zellzwischenraum – befinden.
Sonderforschung für poröse Medien
Das in Stuttgart vorhandene fachliche Know-how über poröse Medien spiegelt nicht nur in Kochs Forschung wider. Vielmehr hat die Universität im Herbst 2017 einen Sonderforschungsbereich (SFB) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu „Grenzflächengetriebenen Mehrfeldprozessen in porösen Medien“ bewilligt bekommen. Im SFB 1313 treten mehr als 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Institute der Universität als Principal Investigators auf; SFB-Sprecher ist Prof. Rainer Helmig. Gemeinsam wollen sie grundlegend verstehen, wie Grenzflächen in porösen Medien Strömung, Transport und Deformation beeinflussen. Diese Grenzflächen können zwischen zwei Fluiden oder zwischen einem Fluid und einem Festkörper auftreten. Dabei wollen die Beteiligten quantifizieren, welchen Einfluss Faktoren wie die Porengeometrie, die Heterogenität oder Risse des porösen Mediums auf die Dynamik der Strömungsprozesse ausüben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung mathematischer und numerischer Modelle, mit denen sich die Auswirkungen von Prozessen, die auf sehr viel kleineren Skalen stattfinden, in Strömungssimulationen integrieren lassen.
Wir wollen mit unserer Modellierung und Simulation den Medizinern helfen, dass sie die Vorgänge bei dieser Behandlungsmethode besser verstehen können“
Oliver Röhrle, Professor für Kontinuums-Biomechanik und Mechanobiologie am Institut für Mechanik (Bauwesen) der Universität Stuttgart.
Therapie für Osteoporose
Auch wenn die Forschung von Timo Koch nicht unter die SFB-Förderung fällt, ist sie doch inhaltlich eng mit den dort bearbeiteten Fragestellungen verwandt. Dagegen ist die kürzlich angelaufene Forschung zu Simulationen bei der perkutanen Vertebroplastie, einer Therapie zur Behandlung der Osteoporose (Knochenschwund), ein SFB-Projekt. Angesiedelt ist es bei Oliver Röhrle, Professor für Kontinuums-Biomechanik und Mechanobiologie am Institut für Mechanik (Bauwesen) der Universität Stuttgart. „Wir wollen mit unserer Modellierung und Simulation den Medizinern helfen, dass sie die Vorgänge bei dieser Behandlungsmethode besser verstehen können“, umreißt der Biomechaniker das Ziel der eigenen Forschung.
Komplikationen bei Behandlung vermeiden Bei der perkutanen Vertebroplastie spritzt der Arzt sogenannten Knochenzement in die Wirbel von Patienten, die an Osteoporose leiden. Die Behandlung erfolgt minimalinvasiv; der Arzt injiziert schrittweise wenige Milliliter des Knochenzements und kontrolliert immer wieder die Folgen mit Röntgenaufnahmen. „Es ist eine Standardbehandlung“, sagt Röhrle, „aber es gibt leider immer mal wieder Komplikationen, so dass zum Beispiel Knochenzement aus einem Wirbel austritt. Zudem weiß der Arzt nicht, wie sich das mechanische Verhalten des menschlichen Bewegungsapparats durch den Knochenzement ändert.“
„Es ist eine Standardbehandlung, aber es gibt leider immer mal wieder Komplikationen, so dass zum Beispiel Knochenzement aus einem Wirbel austritt. Zudem weiß der Arzt nicht, wie sich das mechanische Verhalten des menschlichen Bewegungsapparats durch den Knochenzement ändert.“
Oliver Röhrle, Professor für Kontinuums-Biomechanik und Mechanobiologie am Institut für Mechanik (Bauwesen) der Universität Stuttgart.
Schließlich haben sich Wirbel, Bänder, Sehnen und Muskeln im Lauf der Zeit an die veränderte Statik der Wirbelsäule angepasst. „Hinzu kommt, dass sich der injizierte Knochenzement letztlich bei jedem Patienten anders verteilt.“ Aus Sicht der Strömungsmechanik ist die perkutane Vertebroplastie ein typisches Beispiel für die Vorgänge in porösen Medien. Der injizierte flüssige Knochenzement härtet im Wirbel aus, so dass es zunächst beim Eindringen des Zements zu einer Volumenänderung und anschließend beim Aushärten zu einer Phasenänderung von flüssig nach fest kommt. „Diese Vorgänge versuchen wir, mit Simulationen zu beschreiben“, sagt Röhrle. Und dabei die Eigenschaften von immerhin drei unterschiedlichen Materialien zu berücksichtigen – von Knochen, Knochenmark und Knochenzement. Um das Stuttgarter Modell zu validieren, werden die Wissenschaftler mit dem AO Research Institute Davos zusammenarbeiten. „Dort haben sie die experimentellen Laboraufbauten und die klinischen Fragestellungen, die wir für unsere Modellbildung benötigen“, so Röhrle. Erst wenn die Ergebnisse aus dieser ersten Phase vorliegen, können sich die Projektbeteiligten an die eigentlich interessante Fragestellung heranwagen: Was passiert genau, wenn es zu einem Bruch oder einem Riss im Wirbel kommt?
Michael Vogel