Ein Crashtest ist ein eindrückliches Erlebnis. Wenn da ein Fahrzeug gegen die Wand knallt, schüttelt es auch die sensorbepackten Dummys im Fahrzeuginneren ziemlich durch. Schon lange finden solche Tests nicht nur real statt, sondern auch als Simulation im Computer, virtueller Dummy inklusive. Zusammenstöße mit Fahrzeugen aus Bits und Bytes sparen viel Zeit und Geld. Doch während die Fahrzeuge in diesen Simulationen sehr realistisch nachgebaut sind, bleiben die virtuellen Dummys das, was sie schon im realen Crash sind – unvollständige Annäherungen an einen menschlichen Körper. Soll heißen: Gewicht, Dimensionen und Steifheit der einzelnen Körperteile stimmen zwar mit der Realität im Bevölkerungsdurchschnitt überein, doch an die Komplexität des menschlichen Bewegungsapparats reichen sie nicht heran – weder in realen noch in virtuellen Tests. Platt gesagt: Dummys haben keine Muskeln.
„So lassen sich Fahrzeuge nicht menschzentriert entwickeln“, findet Prof. Syn Schmitt, Leiter des Instituts für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme (IMSB) sowie Forscher im Exzellenzcluster „Daten-integrierte Simulationswissenschaft“ (SimTech) der Universität Stuttgart.
Dabei gibt es für eine Fahrzeugentwicklung mit dem Menschen im Mittelpunkt gleich drei gute Gründe: Erstens sollen künftige Sicherheitssysteme die Insassen eines Fahrzeugs noch besser schützen, vor allem auch bereits in der Phase unmittelbar vor einem Zusammenstoß und mit Blick auf Verletzungen, die nicht lebensgefährlich sind.
Dabei spielt zum Beispiel die konkrete Statur eines Menschen eine maßgebliche Rolle, weil es einen Unterschied macht, ob da ein Leichtgewicht von 50 Kilogramm oder ein 150-Kilo-Mensch sitzt. Zweitens werden diese Insassen in einem autonomen Fahrzeug nicht mehr zwangsläufig die klassische Sitzposition innehaben, wenn es zu einer Notbremsung kommt. Vielleicht dösen sie mit zurückgeklappter Lehne oder sitzen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Drittens muss so ein autonomes Auto bei einem Fußgänger erkennen, ob er womöglich abrupt die Straße überqueren möchte. Derzeit ist diese Person für die Bordsysteme nicht viel mehr als eine Silhouette, aus der die intendierte Bewegung nur schwer abzuleiten ist.
Den realen Bewegungen nahekommen
Das alles ist keine graue Theorie, wie zum Beispiel die realen Crashtests verdeutlichen, deren Ergebnisse der ADAC im Frühjahr veröffentlicht hat. Demnach schützen heutige Drei-Punkt-Gurte nicht bei einer rückwärtsgewandten oder liegenden Position; auch eine seitliche Sitzposition kann zu Verletzungen führen, sogar durch den Gurt.
„Für die Risikobeurteilung künftiger Fahrsituationen brauchen wir bessere digitale Menschmodelle“, sagt Schmitt. „Besser“ bedeutet: Modelle, die nicht nur Knochen und die richtige Massenverteilung haben, sondern auch Muskeln und Sehnen, denn diese bestimmen maßgeblich Haltung und Bewegung. Solche Menschmodelle entwickeln Schmitt und sein Team. Ein Menschmodell ist, wie alle Modelle in einer Simulation, zunächst ein Satz mathematischer Gleichungen. In diesem Fall beschreiben sie die Wechselwirkungen im Bewegungsapparat. Ein Mensch hat 656 Muskel-Sehnen-Einheiten, Schmitts komplexestes Modell berücksichtigt 580 davon und damit „alle, außer denen für Gesicht, Finger und Hand“. Solche Menschmodelle sind im Grundsatz nicht nur für die Automobilindustrie interessant, sondern zum Beispiel auch für Medizin und Medizintechnik.
„Unser Menschmodell ist in einer Datenbank hinterlegt“, erklärt Schmitt. „Bei einer konkreten Fragestellung nutzen wir dann häufig nur den Teil des Modells, der für die zu untersuchende Bewegung besonders relevant ist, etwa einen Arm oder die Beine.“ Die menschliche Bewegung ist ein Produkt des Zusammenspiels aus Gehirn und Nervensystem mit Muskeln und Bewegungsapparat. Im digitalen Menschmodell lässt sich dieses Zusammenspiel nicht eins zu eins abbilden, weil es viel zu komplex und auch noch nicht vollständig verstanden ist. Daher entwickelt Schmitts Team mathematische Beschreibungen, die den realen Bewegungen möglichst nahekommen.
Unter anderem im Rahmen des EU-Projekts OSCCAR[en] schaffen die Stuttgarter Forschenden die Grundlagen, um solche digitalen Menschmodelle künftig in Systeme für die Crashsimulation zu integrieren. An OSCCAR wirken rund 20 Partner aus Industrie und Forschung mit, darunter Bosch, Daimler, Siemens, Toyota, Volkswagen und Volvo. Das auf drei Jahre angelegte Projekt mit einem Budget von knapp 7,7 Millionen Euro endet im Juni 2021. Die digitalen Menschmodelle im Projekt sollen spezifische Eigenschaften berücksichtigen, die sich zum Beispiel aus Geschlecht oder Alter ergeben – bis hin zu verbesserten Materialeigenschaften. Und es sollen sich mit ihnen bei einer Gefahrensituation muskelgetreue Bewegungen für Fußgänger, Fahrer und Beifahrer simulieren lassen.
„Das betrifft die Körperhaltungen wie Stehen und Sitzen, aber auch die Bewegungen beim Bremsen, Lenken und Ausweichen“, sagt Schmitt. „Kommerziell verfügbare Menschmodelle können das bislang nicht, sie sind praktisch statisch."
Validierung ist essenziell
Neben der Entwicklung von digitalen Menschmodellen ist deren Validierung essenziell, um das reale Vorbild möglichst gut zu repräsentieren. Das geschieht zum Beispiel anhand von Realdaten, die in Versuchen mit Freiwilligen gewonnen werden. Hier kommt Prof. Jörg Fehr ins Spiel. Er ist stellvertretender Leiter des Instituts für Technische und Numerische Mechanik (ITM) an der Universität Stuttgart und forscht wie Schmitt im Exzellenzcluster SimTech. Fehr hat am ITM im Rahmen einer Promotion einen Fahrsimulator mit geeigneter Messkette entwickeln und aufbauen lassen.
Es gibt sehr viel leistungsfähigere Fahrsimulatoren, auch an unserer Universität“, sagt Fehr. „Aber mit unserem Simulator können wir Methoden aufzeigen, um digitale Menschmodelle sehr kostengünstig zu validieren. So können wir auch Studierende an komplexe wissenschaftliche Fragestellungen heranführen.“ Für die Tests arbeitet sein Team mit Prof. Tobias Siebert und Privatdozent Norman Stutzig vom Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft (INSPO) zusammen. Ein Fokus ihrer Forschung ist die Weiterentwicklung von Muskelmodellen, um die Muskelkräfte gerade in hochdynamischen Unfallsituationen besser abbilden zu können als bisher. „Das INSPO-Team misst bei den Probanden im Fahrsimulator die Muskelanspannung, während wir diese Probanden verschiedenen Verkehrssituationen aussetzen und ihr Bewegungsverhalten analysieren“, erklärt Fehr.
Hin zum individuelleren Schutz
Eine Frage ist dabei, was sich im Bewegungsapparat eines Probanden verändert, wenn er abrupt bremsen muss. Man weiß, dass Menschen, die einen Zusammenstoß kommen sehen, ihre Muskulatur reflexhaft anspannen, um den Körper zu schützen. In virtuellen Crashsimulationen wird das noch nicht berücksichtigt. Schon gar nicht, dass eine durchtrainierte 20-Jährige sich so womöglich besser schützt als ein gebrechlicher 80-Jähriger. „Heutige Sicherheitssysteme schützen eben nur den durchschnittlichen Insassen, noch nicht den einzelnen Menschen, dessen Statur, Muskulatur und Reaktionsverhalten individuell sind“, sagt Fehr. Die Streuung im Verhalten realer Menschen lässt sich im Simulator untersuchen und dann in die digitalen Menschmodelle integrieren.
Der nächste Schritt sind umfangreiche Tests mit einigen Dutzend Freiwilligen im Simulator. „Die digitalen Menschmodelle liefern sehr viele Parameter und damit Möglichkeiten, um Bewegungen zu beschreiben“, erläutert Fehr das Grundproblem, das er durch die Validierung lösen will. Oft ist unklar, wie die Muskeln dabei genau angesteuert werden, weil die Ansteuerung häufig nichtlinear geschieht. Kurz gesagt: Winzige Steuersignale lösen große Veränderungen aus – und lassen sich in der Gesamtheit einer Bewegung nicht mehr kausal isoliert identifizieren. Das Zustandekommen der Bewegung bleibt so zum Teil unverstanden.
Vor allem aber kann man gar nicht alle denkbaren Szenarien durchspielen, weil es schlicht zu viele wären. „Die Realdaten aus dem Fahrsimulator helfen dagegen, die Parameter zur Bewegungsbeschreibung im Menschmodell einzugrenzen“, sagt Fehr.
Künstliche Intelligenz und digitale Muskeln
Das versuchen Schmitt und sein Team auch noch auf anderen Wegen. Ein neuer Ansatz, dessen prinzipielle Machbarkeit sie kürzlich belegen konnten, beruht auf Künstlicher Intelligenz. „Dabei müssen wir nicht mehr ursächlich verstehen, wie die Bewegung in einer Muskelgruppe genau abläuft, sondern nutzen einfach das Maschinelle Lernen, um Muster zu erkennen“, sagt Schmitt. Zum Beispiel könnte beim digitalen Modell des Arms ein Algorithmus sämtliche Parameter für die Regelung der Bewegung durchspielen. Der Algorithmus bekäme dann jeweils eine Rückmeldung, ob sein Ergebnis korrekt ist – und würde nach und nach lernen, welche Werte die Parameter haben müssen. „So ließen sich irgendwann auch komplexe Bewegungsabläufe in Simulationen einbinden, die die digitalen Menschmodelle zuvor selbst erlernt hätten“, so Schmitts Vision. Künstliche Intelligenz und digitale Muskeln würden dann reale Bewegungen fast perfekt simulieren.
Text: Michael Vogel