Die Welt des Handels verändert sich, unter anderem dadurch, dass Kunden immer mehr individuell angepasste Produkte wünschen. „Das führt zu einer gigantischen logistischen Herausforderung, weil Teile in immer kleineren Stückzahlen zugeliefert werden müssen“, erklärt Prof. Robert Schulz, Leiter des Instituts für Fördertechnik und Logistik (IFT) der Universität Stuttgart. Dies sei einer der Gründe gewesen, das Stuttgarter Logistik-Modell zu entwickeln. „Zweitens verändern sich Lebensräume, vor allem die Städte. Wir müssen Lösungen finden, um nicht im Verkehrsinfarkt unterzugehen.“
Das Modell soll daher Wege aufzeigen, wie die Ver- und Entsorgung in Städten umweltfreundlich und CO2-neutral organisiert werden kann. Dabei nutzt es auch technische Lösungen, die bereits existieren. Prozesse neu zu denken und dabei diese Lösungen einzusetzen, das sind die Leitgedanken des Stuttgarter Logistik-Modells.
Wie sich der Warentransport verändern wird, zeichnet sich bereits ab: Aus großen Logistikzentren im Umfeld der Ballungsräume werden die Güter künftig in kleine städtische Verteilstationen gebracht. Von dort geht es auf die letzte Meile zum Kunden. Kurier-Express-Paket (KEP)-Dienstleister beginnen bereits damit, dieses Konzept umzusetzen, sagt Schulz.
„DHL, UPS, DPD und Co. fahren alle mit ihren Lieferfahrzeugen durch die gleichen Straßen. Ob das so sinnvoll ist, muss man hinterfragen.“
Prof. Robert Schulz, Leiter des Instituts für Fördertechnik und Logistik
„DHL, UPS, DPD und Co. fahren alle mit ihren Lieferfahrzeugen durch die gleichen Straßen. Ob das so sinnvoll ist, muss man hinterfragen.“ Er geht davon aus, dass durch die politischen Bemühungen um eine Verkehrswende in den Städten zudem Parkplatzflächen frei werden. „Diese Flächen könnte man für Mikro-Hubs nutzen.“ Von diesen Zentren aus könnten die KEP-Dienstleister mit Lastenfahrrädern oder anderen emissionsfreien Fahrzeugen die Kunden bedienen. Andersherum könnten die Kunden dort auch ihre bestellten Waren abholen.
Flexible Transportsysteme sind notwendig
Der Trend zu personalisierten Produkten führt laut dem Logistikforscher zu weiteren Fragen: „Warum muss die gesamte Fertigung beim Hersteller stattfinden? Warum verlagert man das nicht näher zum Kunden?“ Gerade Güter, die länderspezifisch abgewandelt werden, würden heute schon in den Verteilzentren der Logistiker bearbeitet. Als Beispiel nennt Schulz Bekleidung, die dort ihre Einnäher und Embleme erhält. Gleichzeitig gewinnt der 3D-Druck als Fertigungstechnik an Bedeutung. Dies werde Produktionsketten verändern. „Künftig werden nicht mehr alle Teile zuerst zentral in ein Werk geliefert und dann wieder an alle Kunden verteilt. Sondern Teile der Produktion werden sich in die Logistikzentren verlagern.“
Das stellt die Intralogistik vor neue Aufgaben: „Diese Logistikzentren bekommen dann innerhalb kürzester Zeit verschiedenste Produkte verschiedenster Hersteller herein, die sie verteilen, sortieren, konfigurieren und kundenauftragsspezifisch kommissionieren oder individualisieren müssen“, schildert Schulz. Starre Förderbänder können diese Aufgaben nicht mehr lösen. „Dazu brauchen Sie extreme Flexibilität.“ Deshalb dürften sich fahrerlose Transportsysteme durchsetzen, die bislang vor allem in der Industrie eingesetzt werden. Wie sich diese Transporter frei im Raum bewegen können und dennoch ihr Ziel präzise erreichen, daran forscht das Team am IFT aktuell – unter anderem arbeitet es zusammen mit einem Start-up-Unternehmen an einer Innenraumnavigation über eine spezielle Funktechnologie.
40.000 Lkw-Fahrten pro Jahr werden zwischen Nußloch und Leimen in Baden-Württemberg durch die dortige Materialseilbahn von HeidelbergCement eingespart.
Wenn die Waren das Logistikzentrum verlassen, sollen sie nach dem Stuttgarter Logistik-Modell mit den erwähnten technischen Lösungen zu den Mikro-Hubs gelangen. Dies könnte unter anderem mit dem am Institut entwickelten Hochgeschwindigkeitsfördersystem (HGFS) geschehen. Die Idee für das HGFS basiert auf einer klassischen Achterbahn. Allerdings wurde das Antriebskonzept, die Schwerkraft zu nutzen, verändert. Das Team des IFT entwickelte einen neuartigen Antrieb: Die Schiene wurde um 90 Grad gedreht und jeder Wagen erhält einen E-Motor. Vor allem eine Herausforderung musste das Team bei dieser Technologie lösen, erläutert Schulz: „Wenn Sie eine Kurve oder eine Steigung haben, verändert sich der Flankenabstand der Zahnräder. Es muss konstruktiv entwickelt werden, dass dieser Abstand gleich bleibt.“
Achterbahnen-Antriebskonzept als Vorbild
Für Freizeit-Achterbahnen wurde das Prinzip in Kooperation mit einem Hersteller schon mehrfach umgesetzt, unter anderem am „Sky Dragster“ im bayerischen Bad Wörishofen. Dieses neue Antriebskonzept soll nun genutzt werden, um auch Waren und Güter zu transportieren. Als Logistiksystem soll das HGFS Lasten bis 1500 Kilogramm auf Europaletten mit 50 bis 60 Stundenkilometern befördern können. Dabei überwindet es Steigungen bis 45 Grad. Als Bindeglied zwischen Logistikzentren und Verteilstationen könnte es zum Beispiel auch unterirdisch in bereits bestehenden Kanälen verkehren. Große Produktionsstätten wie Autofabriken und deren Lieferantenparks könnte das HGFS ebenfalls beliefern. Noch sind die Forscherinnen und Forscher jedoch damit beschäftigt, ein Schienensystem zu entwickeln, das weniger Material benötigt und weniger kostet als die Doppelschiene aus Stahlfachwerk von Achterbahnen.
Seilbahnen im Aufwind
Daher schwebt Schulz ein weiteres zukunftsträchtiges Transportmittel vor: die Seilbahn. Am IFT forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahrzehnten zur Seiltechnik und prüfen Seilbahnen in aller Welt. „Die Verknüpfung der Mikro-Hubs mit den vorstädtischen Logistikzentren – dazu wäre die Seilbahn interessant. Ich kann das ja kombinieren: Jede dritte Gondel befördert Waren und erspart dadurch Transporte auf der Straße“, sagt der Forscher. Die anderen stünden dann für den öffentlichen Personennahverkehr zur Verfügung. „Wenn die Frage aufkommt, wie man den Verkehrsinfarkt in den Städten verhindern kann, ist man immer schnell bei öffentlichen Verkehrsmitteln“, sagt der Logistiker. „Dabei könnte die Seilbahn in der Zukunft eine große Rolle spielen.“
Seilbahnen als alternatives urbanes Verkehrsmittel rücken stärker in den Fokus. Das Institut für Fördertechnik und Logistik (IFT) entwickelt derzeit gemeinsam mit dem Ingenieurbüro „SSP Consult Beratende Ingenieure GmbH“ entsprechende Planungstools. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) fördert das zweijährige Vorhaben fachlich und finanziell mit rund 300.700 Euro.
Ein Vorbild dafür ist die Stadt La Paz in Bolivien. Dort gingen seit 2014 zehn Linien der Seilschwebebahn Mi Teleférico in Betrieb. Auch in Deutschland prüfen mehr und mehr Städte Seilbahnen als Verkehrsträger, darunter München und Stuttgart. Leider scheitert das bisher immer ein bisschen daran, dass man urbane Seilbahnen touristischen Orten zuordnet“, so Schulz. Aber „es steht und fällt damit, dass man sie in den öffentlichen Personennahverkehr einbindet, sodass für die Fahrgäste ein Nutzen entsteht“.
Schwierig ist das Thema Seilbahn noch in einer anderen Hinsicht: „Sobald man irgendwo eine Stütze aufbauen will, werden Sie hier in Stuttgart relativ viele Gegner haben“, befürchtet Schulz. Dabei spreche viel für die Seilbahn: leiser Betrieb bei konstanten Fahrgeräuschen, praktisch keine Wartezeiten und: „Im Vergleich mit anderen Bahnen ist sie auf jeden Fall die günstigere Lösung bei gleicher Leistung.“
Anders als bei einer U-Bahn entfällt der teure Tunnelbau. Im Gegensatz zu Straßen- und S-Bahn wird kaum Fläche benötigt und versiegelt. Zudem fährt die Seilbahn weitgehend autark, spart also Personal- und Betriebskosten ein. Aber die Akzeptanzprobleme seien eben vorhanden und müssten gelöst werden, betont Schulz: „Niemand möchte, dass die Seilbahngondel durch sein Wohngebiet fährt.“ Wie und wo sich diese Bahnen etablieren könnten, ist deshalb eine weitere Frage, die das Forscherteam im Rahmen eines Forschungsprojektes in den kommenden Jahren beantworten will.
Text: Daniel Völpel
Prof. Robert Schulz, E-Mail, Telefon: +49 711 685 83771