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Immer wenn den Menschen im Laufe der Geschichte das Leben in der Stadt oder an Fürstenhöfen mit seinen sozialen Verpflichtungen und politischen Rücksichten zu anstrengend wurde, kam die Idee davon auf, dass es ein ‘natürlicheres’ Leben geben könnte. Im Ergebnis entstand eine Form von imaginärer Flucht aus dem Stadtleben, deren erste Ergebnisse in der Antike die Gedichte von Theokrit oder Vergil waren. In der Frühen Neuzeit zwang die Herausbildung der modernen Nationalstaaten, deren Zentrum die Königshöfe waren, den Adel weitgehend, sich an diesen Höfen und in der jeweiligen Hauptstadt aufzuhalten. Altadlige Freiheit gehörte damit definitiv der Vergangenheit an. Gerade dieser Verlust wurde durch die Phantasien von einem freien Leben auf dem Lande kompensiert. Ein Beispiel hierfür ist das 1539 erschienene Traktat Menosprecio de Corte y alabança de aldea, in dem der Spanier Antonio de Guevara über die Missachtung des Hofes klagt und das Hohelied des Landlebens singt.
Zu diesen antimonarchischen Tendenzen kam ein weiterer Aspekt: Seit dem Jahr 1471 propagierte der anonyme „Grand Calendrier et compost des bergers“ (Großer Kalender und Sternenberechner des Schäfers) ein Leben in Übereinstimung mit der Natur. Demnach genüge es, wie die Menschen der Bibel zu leben, denen Gott Schafe zur Kleidung und Nahrung beigesellt habe, und schon könne man gottgefällig ein ruhiges, gesundes und langes Leben führen, so der Tenor der Schrift. Auch einem Menschen der Gegenwart und sogar einem Adligen stehe das Hirtengewand nicht schlecht und entspreche der göttlichen Bestimmung: Schließlich seinen alle biblischen Könige und Erzväter immer auch Hirten gewesen.
In der politischen Metaphorik ist es zudem seit Homer üblich, den Herrscher als den sorgetragenden Hirten seines Volkes zu bezeichnen. Der Herrscher als ,Pastor’ sichert seinen Untertanen, den ,Schäfchen’, das Leben, indem er sie in die richtige Richtung führt. Kaum verhohlen steckt in der Schäferideologie also auch die Bildlichkeit für die Legitimierung von Herrschaft. Aus diesem Gemenge von Vorstellungen entstand später unsere ,Schäferliteratur des Alltags’, zu der das bekannte Wiegenlied von den Schäfchen („Schlaf Kindchen, schlaf, der Vater hüt’ die Schaf“) zählt. Auch unsere Vorstellungen von Idylle und Ruhe im Wochenendgarten stammen aus dieser Tradition.
Bevor es dazu kommt, erfinden seit dem 16. Jahrhundert Intellektuelle und Adlige Bilder von einem befreienden Aufbruch nach Arkadien, dem gelobten Land des einfachen Lebens. Einer von ihnen war Honoré d’Urfé (1568-1625), ein französischer Hochadliger aus Savoyen, der im Forez, einer versteckten Hochebene nahe der Städte Lyon und Saint Étienne, geboren war. Später erinnert er sich im Exil an das Land seiner Jugend und erträumt sich in diesem ein Dasein ohne die Kontrolle durch den König. Dazu erfindet er die Geschichte der Schäferin Astrée, die mit ihrem geliebten Schäfer Céladon im 5. Jahrhundert im Forez gelebt, gelitten und geliebt hat. Im Jahre 1507 erscheint unter dem Titel L’Astrée der erste von insgesamt fünf Bänden dieses Romans, der 5.299 Seiten umfasst. Trotz seiner Länge wird der Schmöker ein Sensationserfolg, kennt zahlreiche Neuauflagen und wird in fast alle wichtigen Sprachen Europas übersetzt. Über die bis dahin völlig unbekannte Kulturlandschaft des Forez lagert sich jetzt das poetische Bild dieser Landschaft, wie es der Roman liefert. Es ist eine der ersten Regionen Europas, die in den Köpfen der Europäer für über 100 Jahre vor allem als medial vermitteltes Bild existierte.
Als der Adel durch den Aufstieg des Bürgertums seine gesellschaftliche Funktion verlor, verschwanden wesentliche Impulse für die Anfertigung von Schäferliteratur. Stattdessen geriet das Genre unter massive Kritik. Französische Enzyklopädisten wie Denis Diderot bemängelten, dass das wirkliche Leben der Schäfer mit den poetischen Bildern nichts gemein hat. Schließlich geriet die Schäferliteratur ins Vergessen.
Zwar gab es namhafte Versuche, die utopischen und ökologischen Impulse dieser Texte neu auszuloten und zu bewerten. Ihre erstaunliche sprachkünstlerische und texttechnische Qualität jedoch wird erst in neuerer Zeit untersucht. So führte der Lehrstuhl Romanistik I mit Unterstützung des Départments Loire bereits zwei Exkursionen von Studierenden in den Forez durch. Die Teilnehmer bereiteten den Roman Astrée auf, stellten ihn in einer textgetreuen digitalisierten Version ins Internet und legten erste Detailuntersuchungen zu speziellen Problemen der Darstellung von menschlicher Kommunikation in diesem Roman vor. Aus Anlass des 400. Jahrestages der Veröffentlichung des ersten Bandes der Astrée fand in diesem Jahr auf Schloss Goutelas im Forez ein internationales Kolloquium mit Teilnehmern aus den USA, Österreich, Frankreich und Deutschland statt, das von den Stuttgarter Gallo-Romanisten organisiert wurde. Dies sind erste Schritte zu einer in dieser Form einmaligen Kooperation, die nicht nur anliegende französische Universitäten, sondern auch den Gemeindeverband des Forez, das Département Loire und die Region Rhône-Alpes umfasst.
Reinhard Krüger/amg
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