In der Natur hat alles seine Ordnung, sein System: Vom Sonnensystem über das Öko- und Nervensystem bis hinunter zur einzelnen Zelle. In dieser winzigen Einheit werden streng koordiniert Nährstoffe verwertet, Energie gewonnen oder Produkte gebildet. Vor zwanzig, dreißig Jahren war das Wissen der Biologie, was sich wann und wie in einer Zelle abspielt, noch relativ übersichtlich. Fragestellungen gab es genug, aber die molekularbiologischen und genetischen Methoden zu deren Beantwortung standen noch am Anfang.
Durchblick im Datendschungel
In den letzten Jahren entwickelten sie sich zunehmend schneller. Aus zunächst zeitintensiven Analysen entstanden Routinemethoden, mit denen hunderte Proben am Tag untersucht werden können. So lassen sich heute problemlos viele Stoffwechselprodukte nachweisen oder Proteine bestimmen. Eine herausragende Rolle spielt die Entschlüsselung von DNA-Sequenzen. Bekanntestes Beispiel ist das 2001 abgeschlossene Humane Genom Projekt, in dem die Abfolge der rund drei Milliarden Basen unserer Erbsubstanz identifiziert wurde.
Daten zu generieren ist in der Biologie einfach geworden, den Durchblick zu behalten nicht. Doch Unterstützung kommt von anderen Fachrichtungen. In Stuttgart sind dies vor allem die Systemwissenschaftler. Sie untersuchen die biologischen Abläufe auf Strukturen, wie sie aus der Regelungstechnik bekannt sind. Auf dieser Grundlage können mathematische Modelle erarbeitet werden, die die Prozesse in der Zelle abstrahiert und dadurch vereinfacht wiedergeben. Danach beginnt – zumeist durch gentechnische Veränderung – die bewusste Gestaltung biologischer Systeme.
Explored by Uni Stuttgart
Im virtuellen Zentrum für Systembiologie (CSB) unter der Leitung von Prof. Matthias Reuß vom Institut für Bioverfahrenstechnik laufen derzeit zwölf Projekte zusammen. Viele davon sind nicht auf Stuttgart beschränkt, sondern verknüpft mit anderen Universitäten oder Forschungsnetzwerken. Dazu gehören deutschlandweite Verbünde wie HepatoSYS zur Forschung an Leberzellen oder die Initiative SysMO, die in Europa die Systembiologie von Mikroorganismen koordiniert.
Die Arbeiten des Zentrums lassen sich vor allem dem Bereich Bioprozesstechnik und medizinisch-pharmazeutischen Fragen zuordnen. So steht in einer Reihe von Projekten die mikrobielle Produktion von hochwertigen Chemikalien wie Vitaminen, Aminosäuren aber auch von Wasserstoff im Vordergrund. Für reine Produkte und hohe Ausbeuten muss die Verfahrenstechnik stimmen, aber genauso entscheidend sind die Aufklärung der Stoffwechselwege und deren mögliche gentechnische Veränderung. Im Bereich Medizin wird, in Kooperation mit der Uni Tübingen und anderen Partnern, beispielsweise an Krebs geforscht. Ein interdisziplinäres Team untersucht mehrere Signalwege, die in der Zelle von einem einzelnen Molekül ausgelöst werden. Einer dieser Wege führt zum Tod der Zelle, der andere zur Teilung. Diese Abläufe zu entschlüsseln und die Ursachen zu finden, die ein gesundes Gleichgewicht stören, stehen im Mittelpunkt der Forschung.
Das Potential der neuen Disziplin haben auch Unternehmen erkannt; erst vor kurzem gründete ein deutscher Pharmakonzern eine eigene Abteilung Systembiologie. So lässt sich mit Hilfe der Sensitivitätsanalyse eines Modells herausfinden, an welcher Stelle eine Veränderung den größten Einfluss auf das restliche System hat: Hier könnte dann möglicherweise schon eine geringe Medikamentendosis eine große Wirkung erzielen.
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“: Was für die Zelle gilt, spiegelt sich in der täglichen Arbeit der Systembiologen. Denn erst im Zusammenwirken verschiedener Disziplinen öffnen sich neue Dimensionen für unsere Erkenntnis von den Abläufen des Lebens.
Birgit Gebauer
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