Während die Entstehungsgeschichte der Werke Karl Mays gut erforscht ist, harre die Wirkungsgeschichte noch ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung, betonte Wolfram Pyta vom Historischen Institut der Universität Stuttgart bei der Eröffnung des Kongresses, zu dem Referenten aus ganz Deutschland, Frankreich und Polen ins Haus der Geschichte angereist kamen. Gerade die Wirkungsgeschichte erschließt sich über methodische Ansätze, die literarische Werke nicht nur auf ästhetische Qualitäten hin befragen, sondern sie als kulturelle Dokumente liest. Als solche kulturellen Dokumente geben die Werke Karl Mays interessante Aufschlüsse über den Zeitgeist, die sozialen Spannungen, die Geschlechterrollen und die Selbst- sowie Fremdwahrnehmung einer Epoche. So dokumentierte der Kongress nicht nur den aktuellen Stand der Karl May-Philologie, sondern untersuchte die Orient- und Amerikabilder der Epoche insgesamt.
Als herausragende Besonderheit des Mayschen „Orientzyklus“erwies sich, dass der Orient nicht mehr auf das osmanische Reich oder die persische Hochkultur wie beispielsweise bei Goethe reduziert wird, sondern erstmals die Kultur der arabischen Nomaden thematisiert. Während die Türken von Karl May als Vertreter einer differenzierten Kultur als bereits zivilisationsverschlissen und behäbig dargestellt werden, fungieren die Araber als Projektionsfläche für das Bild des unverdorbenen, vitalen, gastfreundlichen und tugendhaften einfachen Mannes. Die Berliner Germanistin Andrea Pollaschegg wies nach, wie diese innerorientalischen Differenzen mit europäischen, von Karl May durchaus nationalstereotypisch gezeichneten Unterschieden korrespondieren und welche Rolle Kara Ben Nemsi im arabischen Raum angetragen wird: Der omnipotente und universalgebildete Held beherrscht nicht nur sämtliche orientalischen Kulturtechniken, die ihm ein grenzenloses Verstehen des Fremden ermöglichen, seine Anpassungsfähigkeit an eine andere Kultur ist zugleich Mittel zum Zweck, das „Eigentliche“zu erkunden. Auch der Regensburger Amerikanist Volker Depkat zeigte am Beispiel der „Winnetou"-Trilogie, wie das Erzählmodell der Abenteuerromane durch das weltanschauliche Programm einer von europäischen Sehnsüchten gespeisten Erlösungsgeschichte überlagert wird.
Elke Uhl
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