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Geschichtsverständnis im deutsch-französischen Verhältnis >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
„Die Quellen haben ein Vetorecht!“
Die Prozesse der Stiftung kollektiver Identität während
des Ersten Weltkriegs sowie dessen literarische Deutungen nach
Kriegsende standen im Mittelpunkt zweier von der DVA-Stiftung und
der Deutsch-Französischen Hochschule geförderter deutsch-französischer
Tagungen, die Prof. Wolfram Pyta, Leiter der Abteilung Neuere Geschichte
des Historischen Instituts, in den letzten zwei Jahren durchführte.
Die Themenstellungen sind insofern ungewöhnlich, als sich
hier die Geschichtswissenschaft nicht mehr Ereignissen, sondern
der Deutung von Ereignissen, ja der Sinnstiftung im Angesicht einer
Katastrophe zuwendet. Dr. Felix Heidenreich sprach mit Prof. Pyta über
das neue Verständnis und die deutsch-französischen Wechselwirkungen.
Herr Prof. Pyta, wie würden Sie selbst sich in der Methodendiskussion
der Geschichtswissenschaft positionieren?
Prof. Wolfram Pyta
(Foto: PRIVAT) |
Pyta:
Die thematische Erweiterung mag zunächst an den cultural turn erinnern,
also der Rehabilitierung des kulturellen Faktors in der Geschichtswissenschaft.
Es geht mir in diesem Zusammenhang darum, die Scharnierstellen zwischen Kulturgeschichte
und Politikgeschichte in den Blick zu nehmen. Wenn ich meine Arbeit in diesem
Kontext methodisch verorten soll, so muss ich jedoch auf einen Ansatz verweisen,
der älter als der cultural turn ist und nach meinem Eindruck nicht ausreichend
gewürdigt wird, nämlich auf die Hermeneutik. Im Gefolge Hans-Georg
Gadamers werbe ich für eine Rehabilitierung der interpretativen Kulturwissenschaft.
Wir dekonstruieren in unserer Arbeit nicht, sondern konstruieren Sinn, fügen
die versprengten Einzelteile des Quellenmaterials zusammen. Dass dieser Prozess
immer unabgeschlossen bleibt, ist unvermeidbar. Das darf uns aber nicht daran
hindern, einen Sinn vorauszusetzen und auf ein Gesamtbild hinzuarbeiten. Die
Grenze dieser Interpretation ist klar gezogen: Die Quellen haben ein Vetorecht!
Konkret bedeutet dies, dass ich die Quellen danach befrage,
warum politische Entscheidungen in einer bestimmten Weise
getroffen wurden. Dabei gilt es aber, kulturgeschichtliche
Dispositionen und Deutungsmuster mit einzubeziehen, die sich
nicht aus Verwaltungsakten ergeben, sondern aus jenen kulturellen
Quellen, die politische Wirkmächtigkeit entfalten können. Dabei
spielt die Literatur eine entscheidende Rolle. |
Dieses Wechselverhältnis ist besonders bei der Frage
der kollektiven Identität zu beobachten. Sie haben diese
Frage in Form eines deutsch-französischen Vergleichs behandelt.
Pyta:
Ein solcher Vergleich bietet sich an,
weil hier paradigmatisch erkennbar wird, wie Ordnungsvorstellungen
aus der Erfahrung des Krieges in die politische Debatte getragen
werden. Die „Gemeinschaft der Frontkämpfer“ wird
zum Idealbild der Vergemeinschaftung und damit zum Modell für
eine noch zu schaffende „Volksgemeinschaft“. Interessant
ist nun, dass diese Prozesse in beiden Ländern in den 20er
Jahren zwar parallel, aber eben doch vor einem jeweils spezifischen
Hintergrund ablaufen. Während Frankreich beispielsweise seit
der Dreyfus-Affäre das Modell des politisch intervenierenden
Schriftstellers und Intellektuellen kennt, ist diese Figur in Deutschland
in dieser Form unbekannt.
Was sind Ihre Erfahrungen in der deutsch-französischen
Kooperation bei der Erforschung dieser Zusammenhänge?
Pyta:
Mir scheint, dass sich deutsche und französische Gepflogenheiten
ganz gut ergänzen. In Frankreich spielt die außeruniversitäre
Forschung, beispielsweise im Centre national de la recherche scientifique
(CNRS), eine größere Rolle. Dies führt dazu, dass
sich die Universitätsprofessoren in Frankreich stärker
spezialisieren, während die deutschen Professoren schon durch
die Verpflichtung zu einer thematisch sehr breit angelegten Lehre
zu einer anderen Ausrichtung gezwungen sind. Vor diesem Hintergrund
kann man sich bei den Tagungen sehr gut ergänzen. Wir planen
daher, unsere Kooperationen mit Frankreich stärker zu institutionalisieren,
namentlich mit dem Centre d’études germaniques interculturelles
de Lorraine (CEGIL) in Nancy. Es scheint mir überaus wichtig,
den Nachwuchsforschern und Studierenden solche internationalen
Perspektiven zu ermöglichen.
Wie würden Sie vor diesem
Hintergrund auf die Frage nach einer möglichen europäischen
Identität antworten?
Pyta:
Dies ist eine sehr komplexe Frage
und aus meiner Sicht sollte sich die Geschichtswissenschaft davor
hüten, sich in Verwertungszusammenhänge einbinden zu
lassen. Dennoch kann ich als Historiker vielleicht Folgendes zur
Debatte beitragen: Im Gegensatz zum radikalen Konstruktivismus
gehe ich davon aus, dass sich die Produktion kollektiver Identität
auf ein vorhandenes, vorgefundenes, nicht bloß erfundenes
Substrat stützen muss. Ein solches Substrat kann eine gemeinsame
Sprache sein – diese ist in Europa nicht vorhanden. Das Substrat
kann aber auch in einer gemeinsamen Geschichte oder in gemeinsamen
Institutionen liegen. Nun haben wir schon 50 Jahre europäischer
Einigungsversuche hinter uns; der Prozess der Selbsthistorisierung
ist also durchaus schon im Gange. Wenn wir jedoch nach kulturellen
Gemeinsamkeiten fragen, so ist evident, dass diese um so schwerer
zu finden sind, je größer die EU wird. Man kann sich,
so scheint mir, hier nicht auf universelle Werte herausreden, denn
Demokratie und Menschenrechte sind Ideale des Westens insgesamt
und nicht ausreichend spezifisch für Europa.
Herr Prof. Pyta,
vielen Dank für das Gespräch.
KONTAKT
___________________________________________
Prof. Wolfram Pyta
Historisches Institut, Abteilung Neuere Geschichte
Tel. 0711/685-83450
e-mail: wolfram.pyta@po.hi.uni-stuttgart.de
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