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‚Unsichtbare Hände’ in Naturwissenschaft und
Technik >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
Zum Unterbau der Forschung
Wenn in den Medien vorrangig über Spitzenleistungen der Forschung
berichtet wird, dann nimmt die Öffentlichkeit dabei nur die
Spitze eines Eisbergs wahr. Auch in der Wissenschaftsgeschichte ähnelten
Darstellungen vom Leben und Werk großer Forscher lange Zeit
der Vita von isolierten Heiligen, während Ideengeber und Mentoren,
Assistenten und Laborhelfer, Techniker, Instrumentenmacher und
andere Beteiligte oft keine Erwähnung fanden. Die Abteilung
für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik (GNT) der
Universität Stuttgart setzt diesem Zerrbild einsamer Genies
einen Forschungsschwerpunkt zur Rolle der ‚unsichtbaren Hände’ entgegen,
der sich um eine realitätsnähere Darstellung bemüht.
Blick
in das Innere des Labors von Justus von Liebig in
Gießen
1842. Durch die Kolorierung hervorgehoben
werden das Laborfaktotum
Heinrich Aubel im Zentrum
sowie der Hausmeister im Hintergrund |
Das Anliegen der Stuttgarter Wissenschaftler ist nicht eine ‚Entthronung’ der
Berühmtheiten, deren herausragende ‚Größe’ ganz
unbestritten ist. Sie sollen jedoch entzaubert werden vom irreführenden
Mythos einer einzelkämpferischen Singularität in
Raum und Zeit. Eine von Prof. Klaus Hentschel, dem Leiter der
Abteilung GNT, vorgelegte neue Anthologie von Aufsätzen*)
zeigt dazu einige gut untersuchte Beispiele auf. So konnte
der manuell eher ungeschickte Direktor des Cambridger Cavendish
Laboratory, Joseph John Thomson in allen experimentellen Belangen
auf die Hilfe seines Laborfaktotums Ebenezer Everett zurückgreifen.
Der Direktor des Kaiser Wilhelm Instituts für physikalische
Chemie, Fritz Haber, hatte den tüchtigen Mechaniker und ‚Diener’ Friedrich
Kirchenbauer und der Strahlenforscher Henri Becquerel ,seinen’ zuverlässigen
Gehilfen Henri Matout. Im Falle des frühneuzeitlichen
Naturforschers Robert Boyle sind nur von einigen wenigen seiner
zahlreichen Laborgehilfen überhaupt die Namen bekannt.
Darunter befinden sich immerhin so illustre Figuren wie Denis
Papin und Robert Hooke, der als Kurator der Instrumente der
Royal Society unter Isaac Newton und anderen arroganten Gentlemen
viel zu leiden hatte. In der Vergangenheit waren auch Ehefrauen
oder andere Familienangehörige oft in solche Teamleistungen
eingebunden, so etwa beim Berliner Astronomen Gottfried Kirch
um 1700. |
Im Mittelpunkt der Anthologie stehen die genauen Formen
der Beteiligung von ‚unsichtbaren Händen’ aller
Art in der Wissensproduktion. Der Pionieraufsatz von Steven
Shapin aus dem Jahr 1989, hier erstmals in deutscher Übersetzung
zugänglich, lenkte die Aufmerksamkeit auf Mechaniker,
Techniker, Assistenten, Familienmitglieder, Gewerbetreibende,
Illustratoren, Zeichner und anderen „Amanuenses“ (Handlanger,
ursprünglich: Schreiber). Viele dieser Arbeitsbeziehungen
hielten Jahrzehnte und erwiesen sich als glückliche Kombination
verschiedener Talente. In anderen Fällen jedoch scheiterten
sie an Spannungen, Verbitterung oder Rivalität. Gefragt
wird unter anderem nach den Bedingungen für die Stabilität
und Fruchtbarkeit solcher asymmetrischen Kooperationsverhältnisse
und nach den jeweiligen Ausprägungen, die solche Kooperationen
in verschiedenen nationalen und persönlichen Kontexten
sowie in verschiedenen Perioden gehabt haben. Inwiefern spiegeln
sich darin grundlegende Wandlungen in der Rolle und Sichtbarkeit ‚unsichtbarer
Hände’? Diese Frage reicht von sozialen Prozessen
wie der räumlichen Trennung von Wohnen und Arbeiten bis
zur Einführung von betreuungsintensiven komplexen Forschungstechnologien.
Unter den Autoren sind neben professionellen Wissenschafts-
und Technikhistorikern auch eine Kunsthistorikerin, ein Physiklehrer,
ein Hochenergiephysiker vom Deutschen Elektronen-Synchrotron
DESY sowie ein Materialforscher, der über seine eigenen
Erfahrungen als unsichtbare Hand am Frankfurter Batelle-Institut
berichtet. Der Band steht auch für die von der Abteilung
GNT angestrebte und hier sehr gelungene Vernetzung von geistes-
und sozialwissenschaftlichen Analysemethoden mit naturwissenschafts-
und technikhistorischen Themenbereichen. Klaus Hentschel/amg |
Karin
Siegner, Scannerin des DESY, und ein
Werkstudent bei der Einweisung
durch den
Physiker Prof. Erich Lohrmann, (links) vor
einem
Messtisch, auf dem
Blasenkammeraufnahmen
ausgewertet
wurden.
(Fotos: GNT-Verlag) |
*)
Klaus Hentschel (Hrsg.) Unsichtbare Hände. Zur Rolle von Laborassistenten,
Mechanikern, Zeichnern u.a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs-
und Entwicklungsarbeit, Stuttgart, Bassum & Berlin: GNT-Verlag,
2008. ISBN 978-3-928186-85-8. 30 Euro
KONTAKT
_____________________________________________________
Prof. Klaus Hentschel
Historisches Institut
Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften
und Technik
Tel. 0711/685-82313
e-mail: khentsc@aol.com
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