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In memoriam >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>
Günther Schweikle
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Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
gab es an der Technischen Hochschule Stuttgart eine Professur für
deutsche Literatur: Die angehenden Ingenieure und Naturwissenschaftler
sollten über ihr Fachgebiet hinaus gebildet werden und deshalb die
klassischen Werke Lessings, Goethes, Schillers kennenlernen. 1968 entschlossen
sich Universität und Ministerium, in Stuttgart das Lehramtsstudium
Deutsch*) einzurichten, wofür ein weiterer germanistischer Lehrstuhl
nötig wurde. Der Tübinger Privatdozent Günther Schweikle
wurde auf diese Professur für ältere deutsche Philologie, also
für die Sprache und Literatur des Mittelalters, berufen. Schweikle,
1929 in Reutlingen geboren, 1994 emeritiert, ist am 22. Juli 2009 in
Stuttgart gestorben.Schweikles Editionen, Bücher, Aufsätze
und Rezensionen vereinigen eine konservative mit einer revolutionären
Absicht. Konservativ beschränkt er sich auf den Höhepunkt der
mittelalterlichen Dichtung im 12. und 13. Jahrhundert, auf Minnesang,
Artusroman, Heldenepik. Revolutionär jedoch war sein Blick auf die Überlieferung
dieser Texte. Er stellte Voraussetzung und Resultat der germanistischen
Editionstheorie und -praxis in Frage. |
Günther Schweike |
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Seit
dem 19. Jahrhundert hatten sich die Ausgaben mittellaterlicher Poesie auf der
Suche nach der vom Autor gedichteten Fassung immer weiter vom Wortlaut der
erhaltenen Handschriften entfernt (die nicht von den mittelalterlichen Dichtern
selbst, sondern von späteren Schreibern stammen). Dagegen wandte Schweikle
ein, dass der eine ursprüngliche Text nicht zu rekonstruieren sei, ja
dass er wohl nie existiert habe, da die Dichter ihre Lieder, die für den öffentlichen
Vortrag bestimmt waren, je nach Gelegenheit abwandelten. Wenn sich über
die originalen, instabilen, multiplen Texte nur Vermutungen anstellen lassen,
bleibt dem modernen Herausgeber nichts anderes übrig, als sich bescheiden
an die vorliegenden Handschriften zu halten und in sie so wenig wie möglich
einzugreifen.
Als Schweikles kritische Studien erschienen, wurden sie von den Vertretern
seines Fachs zunächst fast einhellig abgelehnt. Doch Schweikles eigene
Editionen des frühen Minnesangs und der Lieder Walthers von der Vogelweide
haben den Vorzug dieses Verfahrens erwiesen. Heute werden sie einhellig als
Pionierleistung anerkannt; sie dienen der Edition neuer Texte wie der Revision
etablierter Editionen als Vorbild. Schweikles wachsender Ruhm als bedeutender
Theoretiker und führender Editor der mittelalterlichen Dichtung ist nicht
ohne Tragik: Er erreichte den Gelehrten erst im Alter, als fortschreitende
Krankheit ihn an weiterer Arbeit und sogar an dem glücklichen Bewusstsein
hinderte, dass er eine herausragende Stellung in der Wissenschaftsgeschichte
der deutschen Philologie einnimmt. Heinz
Schlaffer
*) Ein Lehramtsstudium in den Naturwissenschaften und Politologie wurde
schon vor 1968 angeboten (d. Red.)
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