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Stuttgarter unikurier Nr. 77/78 Februar 1998
Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung:
Wohin treibt die europäische Geschichte?
„Wohin treibt die europäische Geschichte?“ - Eine Antwort auf diese Frage versuchte bei der ersten Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung am 12. Dezember 1997 an der Universität Stuttgart der renommierte Oxforder Historiker Prof. Timothy Garton Ash zu geben. Die von der Stiftung Bundespräsident Theodor-Heuss-Haus und der Universität Stuttgart initiierte und von der Öffentlichkeit mit außerordentlichem Interesse aufgenommene Veranstaltung soll von nun an einmal jährlich an der Universität stattfinden.
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Mit der Gedächtnis-Vorlesung möchte die 1994 gegründete Stuttgarter Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus das Andenken an den Staatsmann stärken. Die Beziehungen von Theodor Heuss zu Stuttgart und besonders zur Universität Stuttgart sind vielfältig: Bereits im Februar 1946 hielt er, damals noch als „Kultminister von Baden-Württemberg“, eine vielbeachtete Rede zur Wiedereröffnung der Hochschule. 1948 wurde der Gründungsvater des Grundgesetzes Honorarprofessor an der TH Stuttgart, wo er Vorlesungen über Politik und Geschichte hielt. 1954, Heuss war inzwischen allseits geachteter Präsident der jungen Republik, erhielt er die Ehrendoktorwürde der TH Stuttgart.

Timothy Garton AshTimothy Garton Ash lehrt am Zentrum für Europäische Studien in Oxford. Er lebte und arbeitete lange Zeit in verschiedenen mittel- und osteuropäischen Staaten. Seine Beobachtungen beschrieb er in mehreren Büchern, darunter „Ein Jahrhundert wird abgewählt“. In diesem Buch, das ihn auch in Deutschland bekannt machte, schildert er, wie sich Europa nach dem Fall der Mauer veränderte.

„Die Entwicklung der europäischen Geschichte ist zur Zeit ungewöhnlich offen“, erläuterte Garton Ash im vollbesetzten Hörsaal. Manche Fachleute seien zwar der Ansicht, daß die weltweite Entwicklung keine Alternative zu einem vereinten Europa zulasse. Er wolle aber vor einer zu einfachen Sicht der Dinge warnen.

Der Weg, auf dem sich Europa heute befinde, sei der am längsten andauernde friedliche Versuch, eine Vereinigung zu erreichen. Pläne dieser Art habe es auch schon früher gegeben, allerdings seien nur die nicht friedlichen umgesetzt worden. Einschränkend meinte der Historiker jedoch, daß sich das Wort „friedlich“ nur auf den Westen Europas beziehen könne und nur auf die Abwesenheit eines „heißen Krieges“. Anhand eines kurzen Überblicks über die europäische Geschichte in diesem Jahrtausend zeigte Garton Ash, daß es bereits viele Pläne zur Vereinigung Europas gegeben habe. Jedoch seien die friedlichen bisher nicht realisiert worden, und die realisierten seien nicht friedlich gewesen.

Der Kalte Krieg habe die Einigungsprozesse in Westeuropa beschleunigt, da die Staaten zusammengerückt seien „wie früher gegen die Mongolen oder die Türken“. In dieser Situation seien die europäischen Staaten viele Kompromisse eingegangen. Eine Vereinigung sei allerdings nicht zustande gekommen, obwohl die äußeren Bedingungen sie begünstigt hätten. Garton Ash führt das auf die großen Unterschiede in Kultur, Sprache und Wirtschaft zurück.

Die Entwicklung in den acht Jahren seit dem Fall der Mauer betrachtet Garton Ash mit Skepsis, obwohl Europa nie näher an einer friedlichen Vereinigung gewesen sei als heute. Vielerorts gebe es Widerstand gegen ein von oben her aufgebautes Europa. Und zudem sei im gleichen Zeitraum der Krieg nach Jugoslawien und damit auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Und da neue Nationalstaaten in großer Zahl entstünden, erinnere die Situation insgesamt stark an die Lage vor rund 100 Jahren, sagte der Historiker.

Historische Chancen im Osten Europas seien in den letzten Jahren vernachlässigt worden, weil sich die Politiker auf die Währungsunion konzentriert hätten. Dabei ist die Zeit nach Ansicht Garton Ashs noch gar nicht reif für eine einheitliche Währung. Ein ähnliches System sei zwar in den Vereinigten Staaten von Amerika erfolgreich, die Situation in Europa sei aber nicht vergleichbar. Hier seien die Arbeitskräfte weniger mobil und es mangele an Flexibilität. Und um Schwankungen in der Wirtschaft mit finanziellen Mitteln auszugleichen, fehle die über lange Zeit gewachsene Solidarität zwischen den Menschen verschiedener Staaten.

Für die Zukunft Europas rät Garton Ash zu einem neuen Konzept, das er als „liberale Ordnung“ bezeichnet. Im Rahmen dieser Ordnung sollten alle beim Lösen von Konflikten auf Gewalt verzichten. Kleine Staaten sollten mehr Einfluß haben, als ihnen ihrer Größe nach zukäme, und die Rechte von Minderheiten sollten durch ein internationales Abkommen geschützt sein. Anstelle dauerhafter Allianzen bevorzugt der Historiker ein Konzept, das den Staaten vorübergehende Zweckbündnisse ermöglicht. Ein Gedanke, der heute von den Großmächten häufig geäußert werde, fehle allerdings in seiner Beschreibung. So sagte Garton Ash in seinem Vortrag: „Die Vision von Europa als Akteur auf der Weltbühne teile ich nicht.“

Die Errungenschaften, die auf dem bisherigen Weg zur Vereinigung erreicht worden seien, gelte es nun zu bewahren. „Aber ein Parforceritt zur Einheit gefährdet diese Errungenschaften“, warnte der Historiker. Die liberale Ordnung trage die primären Werte Frieden und Freiheit in sich und sei ein genauso idealistisches Ziel wie die Einheit. So beendete Garton Ash seine Vorlesung mit der Aufforderung an seine Zuhörer: „Versuchen wir also, die europäische Geschichte dahin zu treiben, daß eine liberale Ordnung entsteht.“     /op

Foto: Eppler


last change: 09.06.98 / eng
Pressestelle der Universität Stuttgart 1998