Mit der Gedächtnis-Vorlesung möchte die 1994 gegründete Stuttgarter
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus das Andenken an den Staatsmann stärken. Die
Beziehungen von Theodor Heuss zu Stuttgart und besonders zur Universität Stuttgart sind
vielfältig: Bereits im Februar 1946 hielt er, damals noch als Kultminister von
Baden-Württemberg, eine vielbeachtete Rede zur Wiedereröffnung der Hochschule.
1948 wurde der Gründungsvater des Grundgesetzes Honorarprofessor an der TH Stuttgart, wo
er Vorlesungen über Politik und Geschichte hielt. 1954, Heuss war inzwischen allseits
geachteter Präsident der jungen Republik, erhielt er die Ehrendoktorwürde der TH
Stuttgart.
Timothy Garton Ash lehrt am Zentrum für Europäische Studien in Oxford. Er
lebte und arbeitete lange Zeit in verschiedenen mittel- und osteuropäischen Staaten.
Seine Beobachtungen beschrieb er in mehreren Büchern, darunter Ein Jahrhundert wird
abgewählt. In diesem Buch, das ihn auch in Deutschland bekannt machte, schildert
er, wie sich Europa nach dem Fall der Mauer veränderte.
Die Entwicklung der europäischen Geschichte ist zur
Zeit ungewöhnlich offen, erläuterte Garton Ash im vollbesetzten Hörsaal. Manche
Fachleute seien zwar der Ansicht, daß die weltweite Entwicklung keine Alternative zu
einem vereinten Europa zulasse. Er wolle aber vor einer zu einfachen Sicht der Dinge
warnen.
Der Weg, auf dem sich Europa heute befinde, sei der am
längsten andauernde friedliche Versuch, eine Vereinigung zu erreichen. Pläne dieser Art
habe es auch schon früher gegeben, allerdings seien nur die nicht friedlichen umgesetzt
worden. Einschränkend meinte der Historiker jedoch, daß sich das Wort
friedlich nur auf den Westen Europas beziehen könne und nur auf die
Abwesenheit eines heißen Krieges. Anhand eines kurzen Überblicks über die
europäische Geschichte in diesem Jahrtausend zeigte Garton Ash, daß es bereits viele
Pläne zur Vereinigung Europas gegeben habe. Jedoch seien die friedlichen bisher nicht
realisiert worden, und die realisierten seien nicht friedlich gewesen.
Der Kalte Krieg habe die Einigungsprozesse in Westeuropa
beschleunigt, da die Staaten zusammengerückt seien wie früher gegen die Mongolen
oder die Türken. In dieser Situation seien die europäischen Staaten viele
Kompromisse eingegangen. Eine Vereinigung sei allerdings nicht zustande gekommen, obwohl
die äußeren Bedingungen sie begünstigt hätten. Garton Ash führt das auf die großen
Unterschiede in Kultur, Sprache und Wirtschaft zurück.
Die Entwicklung in den acht Jahren seit dem Fall der Mauer
betrachtet Garton Ash mit Skepsis, obwohl Europa nie näher an einer friedlichen
Vereinigung gewesen sei als heute. Vielerorts gebe es Widerstand gegen ein von oben her
aufgebautes Europa. Und zudem sei im gleichen Zeitraum der Krieg nach Jugoslawien und
damit auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Und da neue Nationalstaaten in großer Zahl
entstünden, erinnere die Situation insgesamt stark an die Lage vor rund 100 Jahren, sagte
der Historiker.
Historische Chancen im Osten Europas seien in den letzten
Jahren vernachlässigt worden, weil sich die Politiker auf die Währungsunion konzentriert
hätten. Dabei ist die Zeit nach Ansicht Garton Ashs noch gar nicht reif für eine
einheitliche Währung. Ein ähnliches System sei zwar in den Vereinigten Staaten von
Amerika erfolgreich, die Situation in Europa sei aber nicht vergleichbar. Hier seien die
Arbeitskräfte weniger mobil und es mangele an Flexibilität. Und um Schwankungen in der
Wirtschaft mit finanziellen Mitteln auszugleichen, fehle die über lange Zeit gewachsene
Solidarität zwischen den Menschen verschiedener Staaten.
Für die Zukunft Europas rät Garton Ash zu einem neuen
Konzept, das er als liberale Ordnung bezeichnet. Im Rahmen dieser Ordnung
sollten alle beim Lösen von Konflikten auf Gewalt verzichten. Kleine Staaten sollten mehr
Einfluß haben, als ihnen ihrer Größe nach zukäme, und die Rechte von Minderheiten
sollten durch ein internationales Abkommen geschützt sein. Anstelle dauerhafter Allianzen
bevorzugt der Historiker ein Konzept, das den Staaten vorübergehende Zweckbündnisse
ermöglicht. Ein Gedanke, der heute von den Großmächten häufig geäußert werde, fehle
allerdings in seiner Beschreibung. So sagte Garton Ash in seinem Vortrag: Die Vision
von Europa als Akteur auf der Weltbühne teile ich nicht.
Die Errungenschaften, die auf dem bisherigen Weg zur
Vereinigung erreicht worden seien, gelte es nun zu bewahren. Aber ein Parforceritt
zur Einheit gefährdet diese Errungenschaften, warnte der Historiker. Die liberale
Ordnung trage die primären Werte Frieden und Freiheit in sich und sei ein genauso
idealistisches Ziel wie die Einheit. So beendete Garton Ash seine Vorlesung mit der
Aufforderung an seine Zuhörer: Versuchen wir also, die europäische Geschichte
dahin zu treiben, daß eine liberale Ordnung entsteht. /op
Foto: Eppler |