In ihrem Eröffnungsbeitrag beschrieb Elisabeth von Samsonow den Übergang von
der Kryptologie zur Kryptogrammatik als die Verdrängung einer ursprünglichen Heiligkeit:
Statt einem schwarzen Loch" an absoluter Unzugänglichkeit ließen die
kulturellen Landvermesser der Neuzeit nur noch weiße Flecken" auf der
kognitiven Karte des Wissens zu. Henry Krips (Pittsburgh) analysierte das Fortbestehen des
Heiligen im Unheimlichen in psychoanalytischer Hinsicht. Das Heilige rühre immer auch an
den Urängsten des Menschen, etwa als Furcht vor der Maske, hinter der sich nichts
verbirgt. Statt auf die Tiefenstrukturen des Geheimen setzte Peter Sloterdijk (Karlsruhe)
den Akzent auf die Horizontalität: Die kartographische Erfassung der Oberflächen (in
Landkarten oder photographischen Verfahren) verlege das Geheimnis vom Raum in die Zeit.
Das Abenteuer liege seither in der Beschleunigung von Entdeckungsreisen - allerdings auf
Kosten der Heiligkeit, da es dann kein gänzlich Verborgenes mehr geben könne. Im
Anschluß an Cassirer definierte Reinhard Margreiter (Berlin) in seiner Deutung der Mystik
das Heilige in medientheoretischer Sicht als Implosion des Symbolischen.
Doppelte Rolle der Schrift
Anhand von Beispielen aus der Kulturgeschichte zeigten Moshe Idel (Jerusalem) und Jan
Assmann (Heidelberg) die doppelte Rolle der Schrift in kultischen und religiösen Texten.
Die jüdische Kabbala kannte nach Idel zwar den Übergang von esoterischen zu exoterischen
Methoden, das umkreisende Prinzip der Entzifferung hatte aber nie die Funktion,
Geheimnisse zu lüften, vielmehr war die kabbalistische Geheimschrift selbst der Garant
der Präsenz des Heiligen. Daß der performative Charakter der Schrift in der rituellen
Lektüre auch die Funktion einer sozialen Differenzierung haben kann, zeigte Jan Assmann
am Beispiel von ägyptischen Rezitationstexten. Die absichtliche Verklärung erlaube den
Beteiligten verschiedene Lesarten entsprechend dem Grad ihrer Eingeweihtheit. Was vom Volk
als einfache Allegorie gelesen wird, erfahre der initiierte Priester als Aufhebung seiner
Person: Das Vortragen bewirkt das Einswerden des Vortragenden mit dem Geheimnis selbst.
Strategien des Geheimen
Strategien des Geheimen dienen aber nicht nur in den älteren Kulturen der Intensivierung
von Kommunikation. Sie sind auch in der Literatur unseres Jahrhunderts aufzeigbar. Anhand
der Translationen chinesischer Schriftzeichen bei V. Segalen und H. Michaux zeigte Gisela
Febel (Stuttgart), wie die scheinbare Unlesbarkeit und die kulturelle Differenz zur
Reflexion von Selbstdeutung und Selbstentfremdung genutzt wird. Indem das Subjekt sich
selbst unverständlich wird, erziele es Intensität in der ästhetischen Selbsterfahrung.
Thomas Macho (Berlin) analysierte Wittgensteins verschlüsselte Tagebücher als
kryptogrammatische Textur: auch Wittgenstein suche in der Verdoppelung seines
Tagebuch-Ichs per Selbstreflexion zum Geheimnis seiner eigenen Person vorzudringen. Er
verfaßte bestimmte Passagen seiner Aufzeichnungen in einer Geheimschrift, um darin den
Genius seines alter ego sprechen zu lassen. Die Kryptogrammatik erweist sich offenbar als
der Ort, an dem die konstitutive Funktion des Geheimen und des Heiligen für die
Konstruktion eines Subjekts und die Entstehung von Kommunikation auch in unserer Kultur
sichtbar wird.
Hermes und Mars
Als Urvater der Kryptogrammatik mag Hermes gelten, der seine Botschaften nur selektiv
überbrachte und die Welt damit in Wissende und Unwissende teilte, oder auch der
Kriegsgott Mars, der nicht nur das Nachrichtenwesen, sondern auch die Geheimhaltung
erfand.
A. Geiger