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Stuttgarter unikurier Nr.79/Juni 1998
Kolloquium des Lehrstuhls für Organisation:
Unternehmertum im Blickpunkt
 

Über angeblich fehlendes unternehmerisches Denken wird in Deutschland intensiv diskutiert. Steigende Arbeitslosenzahlen und gegenläufige Trends in den USA legen eine Änderung des Unternehmerbildes nahe. Großunternehmen geraten durch Produktionsverlagerungen, Standortschließungen und Entlassungen in die Schlagzeilen. Nur junge Unternehmen in den neuen, rasant wachsenden Märkten scheinen in der Lage, die wirtschaftlichen und arbeitsmarktbezogenen Defizite kompensieren zu können. Der facettenreiche Begriff „Unternehmertum" impliziert in Deutschland neben der Frage des Verbreitungsgrades unternehmerischen Denkens auch Fragen nach den kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Hintergründen. Anerkannte Fachleute aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft diskutierten diese Fragen beim Kolloquium des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Organisation im WS 1997/98.

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Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Michael Reiß sprach einleitend zum Thema „Der Neue Mittelstand als Herausforderung an Management, Politik und Wissenschaft". Der „Neue Mittelstand" als Ergebnis breit angelegter Erosionsprozesse innerhalb von Großunternehmen stellt sich als eine heterogene Gruppe von kleinsten, kleineren und mittleren Unternehmen dar, die zwar rechtlich selbständig, wirtschaftlich aber abhängig sind. Im Gegensatz zu herkömmlichen Existenzgründungen zeichnet sich der Neue Mittelstand durch – mehr oder weniger enge – Verbindungen zur Mutterfirma aus. Diese Verbindungen prägen das Verhalten der neuen Firmen. Die Unterstützung der Mutterfirma sichert Risiken von Neugründungen ab; die Abhängigkeit behindert jedoch den freien Marktauftritt. Neben Fragen des Managements erörterte Reiß auch Unterstützungsansätze der Wirtschaftspolitik.

Dr. Bernhard Rosellen (Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg) referierte zur „Existenzgründungsförderung in Baden-Württemberg".

Er skizzierte förderungsfähige Gründungsformen (Übernahme, Neugründung, Unternehmen bis zu einem Alter von fünf Jahren und tätige Beteiligungen) und das Hausbankprinzip. In 97 Prozent der Fälle sind Genossenschaftsbanken und Sparkassen Hausbanken der Gründer. Neben den Höchstgrenzen öffentlicher Förderung am Gesamtkapital und zur Minimal- und Maximalhöhe von Krediten erläuterte er auch die Rollen der Bürgschaftsbank Baden-Württemberg, der Landeskreditbank und der Mittelständischen Beteiligungsgesellschaft Baden-Württemberg im Rahmen der öffentlichen Gründungsförderung.

Helmut Kohlert (Wirtschaftsjunioren Stuttgart) beschrieb in seinem Vortrag „Selbständigkeit als Herausforderung" die Motive für eine wirtschaftliche Selbständigkeit. Er skizzierte die wichtigen Eigenschaften erfolgreicher Entrepreneure und beschrieb die Methode der SWOT-Analyse in der Gründungssituation zur Abschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit. Vor dem Beschluß, sich selbständig zu machen, gelte es, neben Produkten und/oder Dienstleistungen vor allem Zielgruppen, Kundennutzen, Gewinnerwartungen und Absatzkanäle zu definieren.

Dr. Helga Breuninger (Breuninger Stiftung Stuttgart) gab Einblick in das Projekt EXZET (Existenzgründerzentrum Stuttgart e.V.). Ziel ist die Unterstützung arbeitsloser bzw. von Arbeitslosigkeit bedrohter Menschen, die sich selbständig machen wollen. Der Weg in die Selbständigkeit wird unterstützt, indem Geschäftsideen überarbeitet, präsentiert und geprüft werden (in sog. Gründerzirkeln), Informationen und Fachvorträge angeboten werden und - nicht zuletzt - jedem mit dem Gründerbrief ausgezeichneten Gründer ein erfolgreicher Unternehmer als Pate zur Seite gestellt wird. Das Motto des EXZET lautet „Vom Arbeitnehmer zum Auftragnehmer". Das Projekt verfolgt das Ziel, den Weg in die Selbständigkeit ohne große Kredite und damit einhergehende riskante Verschuldung vorzubereiten. Bisher sind im Rahmen des EXZET 50 Unternehmen gegründet worden.

Als Vertreterin der Arbeitnehmerseite referierte Dr. Gudrun Trautwein-Kalms vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung. Ihr Vortrag „Beschäftigungskrise und Erscheinungsformen von Selbständigkeit" thematisierte die Zusammenhänge zwischen der steigenden strukturellen Arbeitslosigkeit und der Intensivierung der öffentlichen Debatte zur Forderung nach mehr selbständigen und flexiblen Beschäftigungsformen. Sie ging kritisch auf die Interpretation von Zahlen ansteigender Selbständigkeitsquoten als Indikatoren ebenfalls steigender Beschäftigung ein, erläuterte die Interdependenzen von Innovation, Selbständigkeit, Wachstum und Arbeitslosigkeit und stellte politische Handlungsmöglichkeiten gegen sogenannte Scheinselbständigkeit dar.

„Möglichkeiten der Redimensionierung durch Outsourcing, Ausgründung, Buy Out und Outplacement" hatte Heinz Müller seinen Vortrag über Restrukturierungsprojekte bei der Alcatel SEL AG überschrieben. Als Motive der Unternehmen für solche Maßnahmen nannte er neben der Weiterentwicklung von Produkt- und Prozeßtechnologien hauptsächlich die Konzentration auf Kernkompetenzen und die Marktentwicklung. Die Formen von Redimensionierungsprojekten reichten von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften über Subcontracting bis hin zu Ausgliederungen, Buy Outs und Outsourcing. Welche Variante letztlich bei Alcatel SEL gewählt wurde, hing jeweils von vier Faktoren ab: von der Multinationalität im Konzern (Produkte werden parallel an verschiedenen Standorten gefertigt), von der Organisationsstruktur, den Profiterwartungen der Geschäftsleitung und den gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen.

 

Ausgründung aus Sicht von "Mutter" und "Tochter"
Eine außergewöhnliche Konstellation stellte der Vortrag von Herbert Reiß und Manfred Prüßner (Hewlett-Packard Deutschland GmbH) sowie Tim Schwegler (Design Manufacturing Technology GmbH) dar: Erfahrungen aus einem Ausgründungsprojekt wurden sowohl aus der Sicht von Hewlett-Packard (HP) als auch aus der Perspektive der neugegründeten „Tochter", der DMT GmbH, geschildert. Herbert Reiß erläuterte den unternehmenspolitischen Kontext und die Entscheidungsfindung für eine Ausgliederung der Blechfertigung bei HP. Besondere Bedeutung während des gesamten Prozesses hatte eine sehr offene und direkte Kommunikation der Unternehmensleitung mit den betroffenen Mitarbeitern. Im Ergebnis wurden die gesetzten Ziele erreicht (z.B. sind die Arbeitsplätze aller Mitarbeiter gesi-chert), und es ist ein Verbund leistungsfähiger Firmen (Mutter und verschiedene Tochterunternehmen) entstanden. Die Kosten der Ausgliederung werden mit rund 8,5 Millionen US-Dollar beziffert. Tim Schwegler zeichnete wichtige Entwicklungsschritte der Firma DMT nach. Für den Erfolg waren einerseits der nach amerikanischem Vorbild entworfene Business-Plan und die unternehmerische Orientierung der Gründerpersönlichkeiten entscheidend. Wesentlich beigetragen haben die Unterstützungsleistungen von HP. Ein weiterer Baustein war neben dem Freiwilligkeitsprinzip für die Mitarbeiter das starke Commitment der Know-How-Träger bzw. der Vorgesetzten.

„Privates Venture Capital versus staatliches Subventionskapital oder: Wie werde ich ein erfolgreicher High-Tech-Unternehmer?" hatte Dr. Gerd Köhler von der Technologieholding VC GmbH, Bad Homburg, seinen abschließenden Vortrag überschrieben. Die Firma TVC hält derzeit ca. 70 Beteiligungen an jungen, expandierenden Firmen mit einem Beteiligungsvolumen von etwa 450 Mio. DM. Pro Jahr werden ca. 20 neue Beteiligungen eingegangen, wobei bei einzelnen Volumina oberhalb 20 Mio. DM ein Finanzierungskonsortium zusammengestellt wird. TVC beteiligt sich vor allem an solchen Firmen, die mittelfristig das Potential zur Weltmarktführerschaft aufweisen. Stimmen Geschäftsidee und Fähigkeiten des Gründers, kann über die TVC sehr schnell Kapital in die junge Firma fließen, so daß auf die rasanten Veränderungsgeschwindigkeiten im Weltmarkt sofort reagiert werden kann. Beispielhaft skizzierte Köhler die Entwicklung der Firma Intershop: innerhalb von eineinhalb Jahren stieg die Mitarbeiterzahl auf 200. Der Trend des Electronic Commerce über das Internet wurde so frühzeitig erkannt, daß die entsprechende Verkaufs-Software vor allen Konkurrenten auf den Markt gebracht werden konnte und bis heute ein riesiges Wachstumspotential verspricht. Der steigende Unternehmenswert ergibt dann bei einem „exit" an die Börse („going public") hohe Gewinne für die TVC, die ihre Anteile an der jungen Firma verkauft. Mit diesem Prinzip erwirtschaftet die TVC hohe Renditen, ohne ein eigenes Aktienportfolio zu pflegen.

E. Rudorf

 

KONTAKT
Betriebswirtschaftliches Institut, Abteilung Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Organisation, Keplerstr. 17, 70174 Stuttgart, Tel.: 0711 / 121-3175, Fax: 0711 / 121-2764
e-mail: lehrstuhl.organisation@po.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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