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Stuttgarter unikurier Nr.80/November 1998
Forschungs- und Ausstellungsprojekt:
Bildung hat (k)ein Geschlecht - Über erzogene und erziehende Frauen
 

Leistungen von Frauen im Erziehungs-, Bildungs- und Sozialbereich wurden über lange Zeit weitgehend verschwiegen. Mädchen-bildung und -erziehung wurde häufig abgewertet und für die Pädagogik allgemein als unwesentlich behandelt. Allgemeinbildung bezog sich auf den Mann als Norm, Mädchen und Frauen erhielten im Verhältnis dazu eine defizitäre „Sonderbildung“. Als Mädchen geboren zu werden bedeutete, sich den Vorstellungen des Mannes unterzuordnen. Es gab jedoch immer auch Frauen, die ihr Recht auf Bildung verwirklichen wollten. Diese aktiven Frauen im Kampf um Selbstverwirklichung sind bis heute kaum bekannt. Heute scheint „Mädchenbildung“ kein Thema mehr zu sein, da Mädchen alle Bildungswege offenstehen. Dennoch erleben Frauen auch heute noch Ungleichheiten und Benachteiligungen. Die Wissenschaftlerin Katharine Ruf von der Abteilung Pädagogik und eine Gruppe von Studierenden hat sich mehrere Semester mit diesem Thema intensiv auseinandergesetzt und es schließlich zu einem Forschungs- und Ausstellungsprojekt erweitert.

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In diesem Projekt wird die Geschichte der Mädchenbildung bis hin zu aktuellen Ansätzen aus Politik und Praxis nachgezeichnet. Der Öffentlichkeit wurden die Ergebnisse im Juli 1998 bei einer Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Katholischen Bildungswerk Stuttgart e.V., einem langen Abend zur Koedukation, einem Seminar zur Bildungsgeschichte von Frauen und Mädchen und weiteren Begleitveranstaltungen präsentiert.
Warum ist die Beschäftigung mit Geschichte wichtig? Wenn geschlechtsspezifische Merkmale und Verhaltensmuster, Werte und Normen kulturell definiert sind und von Geburt an gelernt werden, verändern sie sich auch mit den jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Wandlungen. Erst unter Einbeziehung der historischen Analyse kann die aktuelle Situation beurteilt werden, denn in die enge Interdependenz von Erziehung, Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlicher Realität spielen die vorbewußten, tradierten Annahmen über Geschlechtsrollen mit hinein. Ohne diese Bewußtmachung werden immer wieder von neuem die jedem Geschlecht zugeschriebenen Charaktermerkmale produziert, die dann in einem Zirkelschluß weiter dazu herangezogen werden, die bestehenden Strukturen zu legitimieren. Und diese „Ideologie der Geschlechtscharaktere“ konkretisiert sich in einem Geflecht von Verhaltensregeln, das gerade für Mädchen und Frauen eine erstaunliche Kontinuität über zwei Jahrhunderte aufwies.

Bildungstheorien im Überblick
Konzept und Inhalt von Ausstellung und Begleitbuch*) umfassen Geschlechter- und Bildungstheorien der Aufklärungszeit und Romantik, Gleichheitsforderungen, Mütterlichkeitskonzepte, Ordens-, Schul- und Hochschulgründungen, pädagogische Aktivitäten der gemäßigten und radikalen Frauenvereine, reformpädagogische Bestrebungen, Musik-, Tanz- und Theaterpädagogik, Konstitutierung und Problematik der „Frauenberufe“, die besondere Situation von Jüdinnen und Sozialistinnen sowie das aktuelle Projekt einer feministischen Mädchenschule. Ausstellung und Begleitbuch geben einen exemplarischen Überblick über wichtige Stationen und Personen im Kampf der Frauen um ihr Recht auf Bildung und Beruf. In die sowohl chronologisch als auch systematisch aufgebaute Darlegung über Mädchenbildung und -erziehung sind Beiträge über Leben und Werk verschiedener Pädagoginnen eingefügt.
Den Auftakt zur Ausstellung, die vom 2. bis zum 24. Juli in der Stuttgarter Galerie St. Eberhard in der Königstraße zu sehen war, bildete der lange Abend zum Thema „Gleiche Bildung und doch nicht gleich? Koedukation in der Diskussion“. Die Veranstaltung gab einen Überblick über verschiedene aktuelle Modelle aus Schulpraxis und Politik und bot die Möglichkeit zur Information und Diskussion mit Fachfrauen und einem Fachmann: Elisabeth Frank, Studiendirektorin am Otto-Hahn-Gymnasium in Ostfildern und Leiterin des Stuttgarter Schulversuchs „Physik“, und Anne Jenter, stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, berichteten über die Schulversuche in Baden-Württemberg zur Gleichstellung von Schülerinnen und Lehrerinnen in der Schule. Eine eigene Mädchenschule als feministische Schulpraxis verwirklichen Ruth Devime und Vanessa Wieser in Wien; anschaulich schilderten sie ihr Konzept und den Schulalltag. Schwester Michaele Csordas, Oberstudiendirektorin und ehemalige Schulleiterin der Heimschule Kloster Wald, stellte diese Mädchenschule in kirchlicher Trägerschaft vor. Birgitt Bender, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag, verwies auf die Forderungen nach nicht nur zeitweise getrenntem Unterricht, sondern Einrichtung einer feministischen Versuchsschule auch in Stuttgart. Dr. Heinz Bartjes aus Tübingen, einer der wenigen „Männerforscher“, erläuterte die Probleme der männlichen Sozialisation.

Wanderausstellung
Sowohl die Einzelveranstaltungen als auch die Ausstellung waren über die gesamte Öffnungsdauer überdurchschnittlich gut besucht und stießen auf sehr positive Resonanz. Dies zeigt sich auch im schnellen Ausverkauf des Begleitbuches und in intensiven Diskussionen mit dem Publikum. Viele Besucher, die den Organisatorinnen durchweg hohes Lob zollten, bedauerten, daß die Ausstellung in Stuttgart nur drei Wochen zu sehen war. Interessierte Institutionen können die als Wanderausstellung konzipierte Zusammenstellung ausleihen; von Anfang Oktober bis Mitte Dezember 1998 wird sie im Schulmuseum Kornwestheim gezeigt.

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Die Arbeitsgruppe um Katharine Ruf.

Praxisnahe Lehre
Nicht nur die Öffentlichkeit profitierte; auch die beteiligten Studierenden und Projektmitarbeiterinnen bewerteten die hier praktizierten Lehr- und Lernformen höchst positiv. In den Projektseminaren waren die Studierenden aktiv in die Forschung eingebunden und arbeiteten - da es um ein in der Wissenschaft bislang wenig behandeltes Thema ging - nicht nur bekannte Materialien auf. Neue Arbeitstechniken konnten ausprobiert werden. Als wertvolle Erfahrung bezeichneten viele die praxisnahe Mitarbeit an der Konzeption und Organisation der Ausstellung. Motivierend wurde auch die Veröffentlichung der studentischen Beiträge im Katalog empfunden. Eine didaktische Herausforderung für die Beteiligten war die Präsentation für verschiedene Zielgruppen. Und nicht zuletzt hatten Lernende und Lehrende bei diesem Projekt die Möglichkeit, über eine gemeinsame Aufgabe zusammenzu-wachsen.

Katharine Ruf

*) Katharine Ruf: Bildung hat (k)ein Geschlecht. (Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1998); 191 S., zahlreiche Abb.; DM 79,- (nur noch über den Buchhandel beziehbar)

KONTAKT
Katharine Ruf, M.A., Abteilung Pädagogik des Instituts für Philosophie, Pädagogik und Psychologie, Dillmannstr.15, 70174 Stuttgart, Tel. 0711/121-1444, Fax 0711/121-1422 oder: In den Weingärten 35, 72108 Rottenburg, Tel. 07457/4977; e-mail: metis@www.uni-stuttgart.de oder über die Homepage des Projekts: www.uni-stuttgart.de/External/metis



Adolph Freiherr von Knigge (1788)
„...wenn die Frauen doch nur überlegen wollten, wieviel mehr Interesse diejenigen unter ihnen erwecken, die sich einfach an die Bestimmung der Natur halten und sich unter dem Haufen ihrer Mitschwestern durch treue Erfüllung ihres Berufes auszeichnen! ... Ich tadle nicht, daß eine Frau ihre Schreibart und ihre mündliche Unterredung durch einiges Studium und durch keusch gewählte Lektüre zu verfeinern suche, daß sie sich bemühe, nicht ganz ohne wissenschaftliche Kenntnisse zu sein, aber sie soll kein Handwerk aus der Literatur machen; sie soll nicht umherschweifen in allen Teilen der Gelehrsamkeit... Dann sieht sie die wichtigsten Sorgen der Hauswirtschaft, die Erziehung ihrer Kinder und die Achtung unstudierter Mitbürger wie Kleinigkeiten an, glaubt sich berechtigt, das Joch der männlichen Herrschaft abzuschütteln, verachtet alle anderen Weiber, erweckt sich und ihrem Gatten Feinde ... Es geht alles verkehrt im Hause! Die Speisen kommen kalt oder angebrannt auf den Tisch; es werden Schulden auf Schulden gehäuft; der arme Mann muß mit durchlöcherten Strümpfen einherwandeln; wenn er nach häuslichen Freuden seufzt, unterhält ihn die gelehrte Frau mit Zeitungsnachrichten oder rennt ihm mit einer Gedichtsammlung entgegen, in welcher ihre platten Verse stehen, und wirft ihm höhnisch vor, wie wenig der Unwürdige, Gefühllose den Wert des Schatzes erkennt, den er zu seinem Jammer besitzt.“

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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