Physiker haben sich als erste mit der Entstehung von Staus
befaßt, stellte Prof. Weidlich bei der Präsentation fest und unterstrich damit,
daß ein Institut für Theoretische Physik und Anwendungsfragen gut zusammenpassen. Das am
Stuttgarter Institut für Theoretische Physik II entwickelte Modell der Soziodynamik habe
seine Funktionalität bereits in vielen Bereichen, unter anderem auch für die
Stadtentwicklung, unter Beweis gestellt. So sei etwa die Siedlungsentwicklung entlang der
Autobahn Stuttgart-Singen auch mit dem Modell der Stuttgarter Physiker berechnet worden,
etwa daraufhin, welche Rückwirkungen die Verkehrsentwicklung auf die Standortbedingungen
hat.
Neues Förderinstrument:
WissenschaftssponsoringWissenschaftssponsoring, also die finanzielle Förderung
wissenschaftlicher Projekte durch einen Sponsor, der dafür die Rechte der
Außendarstellung des Projektes erhält, ist ein noch wenig bekanntes Instrument zur
Forschungsförderung. Das Nanjing-Projekt war deshalb nicht nur in wissenschaftlicher
Hinsicht ein erfolgreiches Novum.Mit dem Wissenschaftssponsoring hatten wir an der
Universität Stuttgart noch keine Erfahrungen, stellte Prof. Weidlich anläßlich
der Vorstellung des Projektes im Juli diesen Jahres fest (siehe nebenstehenden Beitrag).
Nach knapp zwei Jahren kann man aber sagen, daß die Zusammenarbeit uneingeschränkt
positiv zu bewerten ist. Auch für den Sponsor, die Daimler-Benz AG, ist nach
Aussage von Dr. Uli Kostenbader, Leiter des dortigen Kompetenz-Zentrums für Ökologie-,
Wissenschafts-, Kultur- und Sozialsponsoring, das Wissenschaftssponsoring ein
relativ neues Instrument der Forschungs- und Kommunikationspolitik. Direkte
Forschungsaufträge oder Spenden sind die wichtigsten Förderinstrumente. Für das
Wissenschaftssponsoring liegen derzeit bundesweit nicht einmal konkrete Zahlen vor.
Schätzungen zufolge werden in Deutschland ungefähr 500 Mio. Mark im Jahr für diesen
Zweck ausgegeben. Dies ist im Vergleich zu den 3,5 Mrd. Mark Sponsorenmitteln für Sport
und Kultur noch eine bescheidene Summe.
Beim Wissenschaftssponsoring besteht die Gegenleistung für die Unterstützung
wissenschaftlicher Projekte in der Übertragung der kommunikativen Nutzung des Projektes
an den Förderer. Das Projekt muß also vor allem dem vorhandenen oder aufzubauenden Image
der fördernden Einrichtung entsprechen. Deshalb stellt das Nanjing-Projekt für
Daimler-Benz eine wichtige Maßnahme dar, um den Wandel vom Fahrzeughersteller zum
Mobilitätskonzern zu unterstreichen. Das sicherste, komfortabelste und auch zu
hundert Prozent abgasfreie Auto bringt nur sehr begrenzten Nutzen, wenn es immobil im Stau
steht, hatte Herbert Grünwald bei der Vorstellung des Projektes formuliert.
Wissenschaftssponsoring kann so, ergänzte Dr. Uli Kostenbader,
einerseits strategische Unternehmensentscheidungen stützen, aber auch Fingerzeige
geben, wie sich Umfeldbedingungen verändern und welche Konsequenzen sich für das
Unternehmen daraus mittel- bis langfristig ergeben können. eng |
Auch die für das Nanjing-Projekt
erarbeitete Szenario-Simulation sei, so stellte Prof. Weidlich als ein erstes
Zwischenergebnis fest, auf andere Regionen übertragbar. Die statistisch ermittelten
Testzahlen und die empirisch erhobenen Daten passen zueinander, erläuterte Prof.
Günter Haag vom Transferzentrum für Angewandte Systemanalyse in Stuttgart.
International ist die Zusammensetzung der ITEM-Projektpartner: neben Prof. Weidlich und
Prof. Haag sind im wissenschaftlichen Bereich Prof. Dr. Frank Englmann (Universität
Stuttgart), Prof. Dr. Yury Popkov (Akademie der Wissenschaften in Moskau), Prof. Dr. Peter
Nijkamp (Free University of Amsterdam) und Prof Dr. Aura Reggiani (University of Bologna)
beteiligt. Zudem stehen der Nobelpreisträger Prof. Dr. Iljia Prigogine und der Stuttgart
Physiker Prof. Dr. Hermann Haken als Berater zur Verfügung. Das benötigte Datenmaterial
stammt von der Southeast University of Nanjing.
Die Auswahl der chinesischen Stadt Nanjing für das internationale Forschungsprojekt
erfolgte vor dem Hintergrund, daß bis zum Jahr 2000 mehr als die Hälft der
Erdbevölkerung in Städten leben wird, der Großteil davon in Megastädten von Ländern,
die an der Schwelle zur Industrialisierung stehen. Nanjing liegt an dem Fluß Yangtse,
etwa 300 Kilometer westlich von Shanghai. Die Stadt hat mit 5,22 Mio. Einwohnern in der
Region, dem größten Überseehafen Chinas, einer der wenigen Brücken über den breiten
Yangtse und dem im Bau befindlichen neuen Flughafen als Verkehrsknotenpunkt eine besondere
Bedeutung.
Stadt und Umgebung wurden für das Projekt mathematisch in 94 unterschiedlich große, in
sich aber möglichst homogene Verkehrszellen unterteilt, zwischen denen meßbare
Beziehungen bestehen, wie Wohnviertel, Industriegebiete, Erholungszonen etc. Die
Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Verkehrszellen lassen sich je nach
unterstellter Entwicklung mathematisch modellieren und nach empirischen Tests auch für
zukünftige Szenarien einsetzen, erläuterte Prof. Günter Haag.
In das mathematische Modell ITEM gehen die Verkehrsströme
zwischen den
94 Zellen im Stadtgebiet ein. (Foto: Daimler-Benz) |
Die Ergebnisse dieser Szenarienrechnungen
werden zum Abschluß des Projektes den chinesischen Partnern übergeben werden.
Keinesfalls wollen wir aber als Besserwisser auftreten, betonte Prof. Haag.
Vielmehr wollen wir ihnen Entscheidungshilfen an die Hand geben, mit denen sie im
Hinblick auf die Verkehrsentwicklung unterschiedliche Optionen für die zukünftige
Stadtentwicklung besser beurteilen können.
Für die Planer vor Ort stehe mit ITEM eine wertvolle Entscheidungsunterstützung bereit,
erläuterte Prof. Weidlich. Es sei in dem Projekt deutlich geworden, daß eine
Nutzungsmischung der Entstehung von Verkehrsproblemen entgegenwirke und daß Verkehrs- und
Stadtentwicklung stets zusammen betrachtet werden müssen. Am Beispiel Nanjing sei aber
auch deutlich geworden, daß in dieser spezifischen Region trotz dringend auszubauenden
öffentlichen Nahverkehrs und dem ebenfalls ausgeprägten Wunsch nach dem eigenen Auto das
Fahrrad weiterhin ein wichtiger Verkehrsträger sein wird und sein sollte.
eng
KONTAKT
Prof. Dr. Wolfgang Weidlich, Institut für Theoretische Physik II, Pfaffenwaldring 57,
Tel.: 0711/685-4926, Fax: -4902, e-mail: office@theo2.physik.uni-stuttgart.de
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