Nach der Begrüßung durch den italienischen Generalkonsul in Stuttgart, Dr.
Bernardo Carloni, und die Leiterin des Istituto Italiano di Cultura Stuttgart, Dr. Luisa
Pavesio, leitete Dr. Franca Janowski (Universität Stuttgart) die Lesung ein. Prof. Remo
Ceserani (Universität Bologna) skizzierte in einem Vortrag über Experimentelles
Erzählen und Konditio-nierung durch Marktmechanismen in der Postmoderne die
Rahmenbedingungen der italienischen Gegenwartsliteratur.
Giulio Mozzi (links), Aldo Nove. |
Die Schriftsteller, alle in den 60er Jahren geboren,
stellten unter Beweis, daß sie trotz des Etiketts cattivisti (»die Fiesen«), unter dem
sie gemeinhin zusammengefaßt werden, eine erstaunliche individuelle Vielfalt
repräsentieren. Aus dem noch unveröffentlichten Roman Amore trug Tiziano Scarpa Auszüge
vor, die die Virtuosität erkennen ließen, mit der er verschiedenste Sprachregister
beherrscht, von der päpstlichen Enzyklika bis zum naiv-staunenden Bericht über ein in
einer Augenhöhle ausgebrütetes Küken. Auch die kurze Erzählung, die Giulio Mozzi
vorstellte, war mit Amore betitelt. Reportageartig nähert sich dieser Text
dem Thema Pädophilie, wobei weder moralisierende Autorenkommentare noch
psychologisierende Innenschauen den Blick auf die Situation versperren. Aldo Nove trug aus
seinem Sammelband Superwoobinda die Erzählung Fuffi vor, deren Titelheld -
das Schoßhündchen einer schwedischen Blondine - verhindert, daß die Wunschvorstellungen
des Erzählers Wirklichkeit werden. Satzfetzen in Pidgin-Italienisch und der bis zum
Überdruß wiederholte Name des Tieres geben diesem Text sein ganz eigenes,
hektisch-skandiertes Gepräge. Isabella Santacroce hatte druckfrisch ihren dritten Roman
Luminal nach Stuttgart mitgebracht und las die Anfangsseiten. Im deliranten Rhythmus von
Popmusik und Drogenrausch entwickelt sich ein Bild individueller Gegenwartserfahrung, die
von flüchtigen Begegnungen und einer rasanten Abfolge unterschiedlichster Sinnesreize
geprägt ist. Bla Bla Bla ist der bezeichnende Titel von Giuseppe Culicchias drittem
Roman, aus dem er einige Abschnitte vorstellte. Die Beton-Architektur der 70er Jahre
findet in diesem Text ihr literarisches Gegenstück in einer Sprache, die mit dem
Ausdruckspotential von Gerüchen, Farben und Lichtverhältnissen ein Klima erzeugt, wie es
in derartigen Gebäuden alltäglich zu erleben ist.
Isabella Santacroce, Giuseppe Culicchia. |
Am Nachmittag standen die Autoren für Fragen aus dem
Publikum zur Verfügung. Sie betonten, daß die Entscheidung für das Literatendasein von
einer Vielzahl von Faktoren bestimmt werde, so daß eine Geschichte unter dem Titel
Wie wurde ich Schriftsteller nicht erzählbar sei. Deutlich wurde zudem, daß
der Begriff Intertextualität um neue Dimensionen erweitert werden muß, um
literaturwissenschaftlich noch tauglich sein zu können. Wie ein humanistisch gebildeter
Autor Zitate aus altgriechischen Tragödien in seinen Text einflicht und wie Isabella
Santacroce mit den Markennamen von Turnschuhen oder den Titeln von Manga-Comic-Serien
arbeitet, muß beschreib- und vergleichbar bleiben.
Ein weiteres zentrales Thema der Autoren ist die Popmusik.
Sie kommt dem Wunsch nach Sinn (Mozzi) dadurch entgegen, daß sie sinnlos
anmutenden Texten einer medial überfluteten Welt zumindest noch einen Rhythmus
einzuschreiben vermag. Musik ist Bewegung, ist Tanz, ist etwas, das Dir nicht
gehört, trotzdem aber in Dir ist, erklärte Isabella Santacroce und brachte damit
zum Ausdruck, wie die Musik den Autoren der 90er Jahre ein Repertoire formaler Muster zur
Verfügung stellt. Damit geht die Bedeutung des gesungenen oder gesprochenen Wortes
einher, die in den Texten durch die häufige Aufnahme der Umgangssprache betont wird.
Wörter werden oft zu rhythmischen Klängen angeordnet (Culicchia), in denen nurmehr die
authentische Erfahrung vom Verlust der Authentizität einer massenmedial abgenutzten
Sprache ihren Niederschlag findet. Nicht-narrative Textcollagen, wie Tiziano Scarpas
Beitrag zur Anthologie Il '68 di chi non c'era, werden so zum Ausdruck der Erkenntnis,
daß die Bedeutung des einzelnen Wortes in der medial vervielfachten Masse der Wörter
zunehmend untergeht.
Tiziano Scarpa. (Fotos:
Knöller) |
Die Literatur wird in den Texten der nuovi selvaggi (der
»Neuen Wilden«) zugleich in den Rang einer Ausdrucksform erhoben, die sich aus sich
selbst heraus legitimiert. Der Schriftsteller ist keine institutionalisierte Instanz, wird
von Publikum und veröffentlichter Meinung aber immer wieder zur Beurteilung von
Gegenwarts-phänomenen aufgerufen. Auf ihre Weise stellen sich die italienischen
Jungautoren dieser Herausforderung und jeder hat seine eigene Art entwickelt, Stellung zu
den Phänomenen zu beziehen, die unsere Gegenwart prägen.
Noch ist die deutsche Verlagslandschaft nicht auf diese eigenwillige italienische
Schriftstellergeneration aufmerksam geworden, so originell und interessant ihre Texte auch
sind. Von den in Stuttgart vorgestellten Autoren liegt einzig von Giuseppe Culicchia der
Roman Knapp daneben als dtv-Taschenbuch vor. Des weiteren finden sich Textausschnitte von
GiulioMozzi, Aldo Nove, Isabella Santacroce und Tiziano Scarpa in der bei Wagenbach
erschienenen Anthologie Italia fantastica. Hier gäbe es für die deutschen Leser
sicherlich noch viel mehr zu entdecken!
F. Janowski/H. Grote
KONTAKT
Hans Grote, M.A., Abteilung Romanische Literaturen II, Keplerstr. 17, 70174 Stuttgart,
Tel. 0711/121-3112, Fax 0711/121-2819; e-mail: hans.grote@po.uni-stuttgart.de.
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