Mit großem Interesse verfolgte das Publikum den Vortrag, der sich mit so
scheinbar gegensätzlichen Dingen wie der dem selbstlosen Dienst am Menschen
verpflichteten Medizin und einem wirtschaftlichen Gesetzen gehorchenden Markt
beschäftigte. Faure legte jedoch an zahlreichen Beispielen und in chronologischen
Betrachtungen der Medizingeschichte dar, daß die Medizin schon im 19. Jahrhundert
marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgte. Noch heute seien solche Mechanismen in
der Medizin bestimmend.
Prof. Faure.
(Foto:
Eppler) |
Der von Prof. Faure definierte Markt wird von den drei
beteiligten Größen Arzt - Patient - Staat bestimmt. Die Ende des 18. Jahrhunderts auch
aus politischen Gründen einsetzende staatliche Förderung der Medizin, die letztlich
einer Bevölkerungsvermehrung, einer Stärkung des Staates und der Wirtschaft dienen
sollte, führte zwangsläufig zu einer Zunahme an Ärzten. Solche Phasen einer hohen
Ärztezahl, ja Ärzteschwemme seien am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts sowie in
der Gegenwart auszumachen, dazwischen jedoch traten immer wieder Phasen der
Unterversorgung auf. Bestimmend für diese Phasen seien staatliche Eingriffe ebenso wie
neue Erfindungen, aber auch das Verhalten der sich entwikkelnden Organisationen wie
Ärztekammern und Krankenkassen. So versuchten Ärztekammern in Frankreich schon im 19.
Jahrhundert, mit Kampagnen gegen Neuzulassungen und gegen Krankenversicherungen dem
zunehmenden Konkurrenzdruck entgegenzuarbeiten und den Markt zu steuern.
Nicht zuletzt aber sei auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in vielfältiger
Weise marktgesetzlichen Gesichtspunkten unterworfen - bis zu dem absurden Beispiel, daß
im letzten Jahrhundert Eltern kostenlose Schutzimpfungen für ihre Kinder nicht wahrnehmen
wollten, weil sie hinter der Gratisaktion eine schlechte medizinische Leistung argwöhnten
- Leistung habe ja schließlich ihren Preis, wie man es bisher gewohnt war.
Und mehr noch: Hinter den aus medizinischen Gründen bewußt hervorgerufenen kleineren
Krankheitsausbrüchen, die die Schutzimpfungen begleiteten, vermuteten manche gar einen
geschäftstüchtigen Versuch der Ärzte, sich Patienten zu machen.
Des weiteren könne, so Faure, beobachtet werden, daß sich innerhalb dieses medizinischen
Marktes bei einer Ärzteüberversorgung geradezu Modekrankheiten entwickeln -
will sagen: bei zunehmendem Konkurrenzdruck bei den Ärzten behandeln diese nur zu gerne
auch Scheinkrankheiten oder kleinere Beschwerden.
Ein weiterer Punkt: die Aufwärtsentwicklung des Krankenhauses, der Konkurrenzdruck, das
gegenüber früheren Jahrhunderten zunehmende Engagement der Ärzte in den Krankenhäusern
und die abnehmende persönliche Bindung zwischen Arzt und Patient haben dazu geführt,
daß der Patient immer mehr zur Ware im Markt Medizin werde.
Abschließend nannte Faure eine Ursache für die skizzierten Entwicklungen, die er in
einem Bewußtseinswandel der Ärzte vermutet. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts sei ein
veränderter Anspruch festzumachen: Nicht mehr die Heilung des einzelnen Patienten stehe
im Vordergrund, sondern die grundlegende Bekämpfung von Krankheiten und die Schaffung
einer besseren Welt. Das führe zu einem gewandelten Engagement, zu einer Distanzierung
vom einzelnen Patienten, zur Behandlung von Krankheiten, nicht von Kranken und damit zur
Schematisierung des einzelnen Patienten. Der medizinische Markt trage im übrigen die
Tendenz zur kontinuierlichen Expansion in sich.
Die Thesen des Gastprofessors mit ihren Bezügen zur Gegenwart standen denn auch im
Mittelpunkt der Gespräche beim anschließenden Umtrunk. Faure ist bereits der zehnte
Gastprofessor, den die DVA-Stiftung an die Universität Stuttgart geladen hat. Ziel der
Stiftung ist eine Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen, ein
Gestalten in begrenztem Raum, wie Geschäftsführer Horst Frank einleitend
ausgeführt hatte. Bisher haben die Institute Geschichte, Romanistik und Städtebau von
diesen Gastprofessuren profitiert. Geplant sei eine Ausdehnung der Gastprofessuren auch
auf die Institute Politik und Philosophie, die Schaffung von Promotionsstipendien und die
Intensivierung des Austausches etwa durch weitere Gastvorträge. Frank nannte als Fernziel
der DVA-Stiftung die Schaffung eines Frankreichzentrums an der Universität Stuttgart.
Eine entsprechende Vereinbarung, die auch die Kooperation mit der Universität erweitert,
soll am 24. November 1998 unterzeichnet werden.
Der Geschäftsführende Direktor des Historischen Instituts, Prof. Dr. Folker Reichert,
begrüßte das Engagement der DVA-Stiftung, das für Studierende und Lehrende eine
Bereicherung darstelle. Er stellte dem Publikum den französischen Gast nicht nur als
ausgewiesenen Medizinhistoriker vor, sondern auch als Mann, der beispielsweise mit
Forschungen zur Geschichte der Homöopathie in Frankreich wissenschaftliches Neuland
betrete.
Der 1953 in Lyon geborene Faure leitet den Forschungsbereich Geschichte der
Gesundheit und der Fürsorge im Centre Pierre Léon für Wirtschafts- und
Sozialgeschichte in Lyon.
C. Rabe
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