Stuttgarter
unikurier Nr.80/November 1998 |
Kolloquium zum Projekt Stuttgart 21:
Breites Spektrum |
Ein wissenschaftliches Kolloquium zeigte am 16. und 17. Juli 1998 die
zahlreichen Aktivitäten auf, mit denen sich die Universität Stuttgart am Projekt
Stuttgart 21 beteiligt. Vertreter der unterschiedlichsten Fachrichtungen stellten Arbeiten
und Untersuchungen zu diesem Jahrhunderprojekt vor. |
|
|
|
Das Projekt Stuttgart 21 wird die Streckenführung der Deutschen Bahn am
Knotenpunkt Stuttgart grundlegend verändern. Den bisherigen Kopfbahnhof ersetzt ein
Durchgangsbahnhof, dessen Gleise unterirdisch durch das Stadtgebiet Richtung Flughafen
verlaufen werden. Nebentrassen verbinden die bisherigen Routen Richtung Nürnberg und
Richtung Ulm/München mit der Durchgangstrasse. Zugleich wird der bisherige Rangierbereich
vom Stuttgarter Norden nach Untertürkheim verlegt. Auch hierzu sind zusätzliche Tunnel
nötig, so daß um den Bahnhof ein Ring an Trassen entstehen wird. Von der Ringlösung
versprechen sich die Planer ein Höchstmaß an Flexibilität. Verwirklichen will man das
Projekt in den Jahren 2001 bis 2010. Man schaffe dadurch, so die Befürworter, den
Anschluß an das Hochgeschwindigkeitsnetz und zugleich zahlreiche Verbesserungen im Fern-
und Nahverkehr für Stuttgart und die Region. Die baden-württembergische Landeshauptstadt
werde so zu einem wichtigen Knotenpunkt des europäischen Verkehrsnetzes.
So sehr das Projekt - nicht zuletzt wegen der einschneidenden Veränderungen im Stadtbild,
wegen der Kosten und einiger technischer Schwierigkeiten -im öffentlichen Gespräch ist,
so wenig ist bekannt, daß die Universität Stuttgart mit den unterschiedlichsten Arbeiten
und Untersuchungen nicht nur an der technischen Vorbereitung und Durchführung von
Stuttgart 21 beteiligt ist, sondern darüber hinaus in Lokal- und Regionalstudien einige
das Projekt betreffende Konfliktfragen zu beantworten vermag.
Das zweitägige Kolloquium zeigte die ganze Bandbreite der Arbeiten auf, deren Vielfalt
nur schwer in drei große Themenbereiche gegliedert werden konnte.
In der ersten Sektion wurden grundsätzliche Fragen der Umgestaltung der Stuttgarter
Infrastruktur sowie die ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen der
geplanten Baumaßnahmen behandelt. Man diskutierte dabei unter anderem die Themen
Eisenbahn-Infrastruktur, die Mineralwasserproblematik oder auch die Messungen der
Kaltluftflüsse im Innenstadtbereich.
In der zweiten Sektion ging es um die Frage, wie die Konsensfindung zu einem solchen
Projekt in der urbanen Gesellschaft unter politischen, sozialen, ökonomischen und
kulturellen Aspekten stattfinden kann. Hier wurden unter anderem die Akzeptanzstudie zu
Stuttgart 21 vorgestellt und Interessen, Akteure und Nutzer im Planungsprozeß
unterschieden.
In der dritten Sektion wurden Beiträge der Universität zur konkreten Planung,
andererseits Studierendenarbeiten vorgestellt, die Planungs- und Entwicklungsprozesse
simulieren und der Ideenfindung dienen können.
Die umfangreichste Beteiligung am Projekt Stuttgart 21 konnte natürlich Prof. Dr.-Ing.
Gerhard Heimerl vom Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen für sich in Anspruch
nehmen. Sein Institut war bereits in der Vorplanungphase mit der Frage der Trassenführung
beschäftigt; dem schlossen sich Machbarkeitsstudien, ein Vorprojekt, betriebliche
Untersuchungen zu den einzelnen Strecken, ein Verkehrskonzept zur Messe Stuttgart 2000
(deren eventueller Neubau in engem Zusammenhang mit der Verkehrsführung Richtung
Flughafen steht) und die beratende Mitwirkung in den verschiedensten Gremien an. Heimerl
betonte in seinem Vortrag, daß das Projekt Stuttgart 21 nicht nur ein lokales oder
regionales Vorhaben sei, sondern in der Anbindung an das europäische
Hochgeschwindigkeitsnetz von weitreichender Bedeutung sei. Die ursprüngliche Planung für
die Trassenführung der Fernverbindungen etwa von Paris Richtung München-Wien oder
Norddeutschland-Südosteuropa hätten an Stuttgart vorbeigeführt, die Stadt neben der
Linie gelegen. Im jetzigen Konzept wird Stuttgart Knoten mehrerer Verkehrsverbindungen.
Heimerl sah darüber hinaus in der intelligenten Karussellösung einen
wirtschaftlichen Nutzen für die ganze Region. Er rechne mit einem volkswirtschaftlichen
Nutzen im Bereich des 2,5fachen zu den Investitionen, die momentan auf etwa fünf
Milliarden geschätzt werden.
Ein besonders kritischer Punkt bei Stuttgart 21 ist zweifellos die Frage der
Beeinträchtigung von Europas zweitgrößtem Mineralwasservorkommen. Prof. Dr. Helmut
Kobus vom Institut für Wasserbau zeigte denn auch mehrere Probleme auf. Der geplante
Tunnel vom Hauptbahnhof zum Wartungsbahnhof in Untertürkheim beispielsweise wird in 40
Metern Tiefe durch das Mineralwasser führen - eine nicht einfache Aufgabe. Einen oft
unterschätzten Faktor stellt auch der durch Überbauung völlig im Untergrund
verschwundene Nesenbach dar. Der Fluß führt im Hochwasserfall bis 100
Kubikmeter/Sekunde, mehr als der Neckar bei Bad Cannstatt. Von daher wirken mannigfache
Faktoren in das Projekt ein; mit über 70 Bohrungen für rund 17 Millionen DM habe man
jedoch eine breite Basis für wissenschaftliche Schlußfolgerungen geschaffen. Lösungen
für die Durchführung des Projekts seien nicht einfach gewesen, aber durchaus machbar.
Um aus dem breiten thematischen Bogen der Vorträge, die von Einzelstudien über
Luftströmungen im Innenstadtbereich über Akzeptanzuntersuchungen in der Bevölkerung bis
zum Büro der Zukunft im geplanten Gewerbeviertel im ehemaligen Nordbahnhof reichten, noch
zwei Beispiele hervorzuheben: Am Institut für Kunstgeschichte untersuchte man bestimmte
Zentralbegriffe der Stadtgeschichte durch die Jahrhunderte, ging der Frage nach, was
Zentren, Wege, Grenzen in einzelnen Perioden den Stadtbewohnern bedeuteten und wie sich
diese Begriffe auch vor dem Hintergrund einschneidender Baumaßnahmen im Stadtbild
verändern können. Das Ergebnis: Viele der traditionellen Begriffe und ihre Bedeutungen
verschwimmen zusehends. Stellte früher eine Stadtmauer die eindeutige, auch juristische
Grenze einer Stadt dar, so ist heute an diese Stelle eine für die Bewohner nur anhand
einiger Schilder bestimmbare Stadtgrenze getreten - während andererseits moderne
Verkehrswege nicht selten die Funktion von Begrenzungen übernommen haben. Oft teilen
stark befahrene Durchgangsstraßen Innenstädte förmlich in mehrere Einzelbezirke.
Umgekehrt tragen Verkehrsprojekte wie Stuttgart 21 dazu bei, das Umland noch stärker an
die Stadt zu binden.
Daß Fragen moderner Stadtentwicklung und städtischer Lebensführung vor dem Hintergrund
antiker Stadtgeschichte mit gutem Ergebnis diskutiert werden können, zeigte schließlich
der ehemalige Prorektor Prof. Dr. Eckart Olshausen vom Historischen Institut auf, dessen
Engagement zum Zusammenkommen der Tagung wesentlich beitrug. Ein Projekt seines Instituts
beschäftigt sich mit der Geschichte der antiken Stadt Tusculum südöstlich von Rom. Die
aus literarischen und archäologischen Quellen gewonnenen Erkenntnisse über Tusculum und
seine Bewohner weisen nicht selten Parallelen zur Moderne auf.
Abschließend sollte eine Podiumsdiskussion am Freitagnachmittag den Versuch unternehmen,
Vorstellungen für das künftige Engagement der Universität an Stuttgart 21
zu entwikkeln. Angesichts der Strittigkeit vieler Punkte kam es zu reger
Zuschauerbeteiligung. Einig war man sich darin, daß das Engagement der Universität zum
Großprojekt Stuttgart 21 größer und vielschichtiger ist als allgemein bekannt. Diese
Vielfalt sowie weiterführende Informationen sollen künftig auch im Internet präsentiert
werden.
C. Rabe
|
|