Die Gedächtnisgeschichte definiert sich nicht über das zunehmende Wissen zu
einem Forschungsgegenstand, sondern als Geschichte der Vorstellungen, die das kollektive
Gedächtnis auf ganz unwissenschaftliche Weise entwirft. Während die Archäologie
erforscht und archiviert, was sonst vergessen würde, lebt die kulturelle Erinnerung als
identitätsstiftendes Bedürfnis auch ohne Ziel und Fortschrittsgedanke weiter.
Ägypten in der Gedächtnisgeschichte
Jan Assmann beschrieb in seinem Vortrag Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des
Abendlandes die Phasen und Funktionen der europäischen Ägyptomanien. Einen ersten
Gipfel erreichte die Ägyptenromantik in der Renaissance: Marsilio Ficino legte seine
Platonübersetzung beiseite, um sich den gerade entdeckten Manuskripten des Hermes
Trismegistos und des Horus Apollo zu widmen, die er für Zeitgenossen Moses hielt.
Die Rezeption der beiden ägyptischen Weisen stand im Zeichen einer kosmotheistischen
Wende. So sah man in den Hieroglyphen den Ausweg, die als Entfremdung empfundene
Ausdifferenzierung von Schrift und Natur wieder aufzuheben. Das hieroglyphische Alphabet
galt als ein Alphabet der Dinge, das ohne die Vermittlung eines arbiträren Zeichens
auskomme und somit das Trauma der babylonischen Sprachverwirrung beenden könne.
Diese Sehnsucht fand zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein jähes Ende, die angeblich
ägyptischen Manuskripte erwiesen sich - wiederum zu Unrecht - als christliche
Fälschungen. Für eine neue Kultfigur sorgten sogleich die Hebraisten: Moses selbst wurde
nun zum Ägypter. Zumindest habe er ihre Mysterien noch verstanden, denn als Begründer
der neuen jüdischen Religion habe er sie übersetzen und überschreiben müssen. Aus
einer strategischen Notwendigkeit für Volk und Staat sei Moses Erfindung des einen
Nationalgottes unerläßlich gewesen. Hinter diese Pragmatisierung der Religion
zurück-zugehen zur negativen Theologie eines magischen Wissens um das All-Eine, das nicht
einmal einen Gott braucht, war das Anliegen der barocken Gelehrten, das später auch
Aufklärer, Freimaurer und Illuminaten im Pantheismus des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel
im Kult um die Göttin Isis, weiterführen werden.
Was macht Dinosaurier interessant?
Mit dem Aufkommen der nur noch am Fortschritt interessierten Geschichtsphilosophie des 19.
Jahrhunderts kippt die Verehrung des Geheimen und Unerklärlichen häufig in die
Trivialität. Wie W.J.T. Mitchell in seinem Vortrag Paleoart - or how the Dinosaurs
broke into the Museum of Modern Art jedoch deutlich machen konnte, lassen sich
durchaus Parallelen zwischen dem Gedächtnis der Populärkultur und der Kunst erkennen.
So bildet heute der Dinosaurier ein ähnliches Faszinosum wie einst der Ägypter: die
Suche nach einer Weisheit vor dem abendländischen Wissen wird nun ersetzt durch den Traum
von einer Natur vor dem Menschen; einer Kultur also, die die
Ausdifferenzierung von Mensch und Kultur noch nicht kannte, so wie auch der Ägypter die
Unterscheidung von Gott und Mensch noch nicht vollzogen hatte.
Allerdings symbolisiert der Dinosaurier nicht nur die naive Sehnsucht nach einer heilen
Welt, er steht gleichzeitig für das schlechte Gewissen unserer Zeit, solche Ur-Weisheiten
nicht mehr annehmen zu wollen. Er ist der Held, der als das ausgeschlossene Andere und
Obsolete in unsere hochzivilisierte und technisierte Welt immer wieder einbricht. Einst
als Fehler der Schöpfung durch die Evolution ausradiert, hat er den Fortschritt trotz
allem überlebt. Er inkarniert die dialektische Antimoderne, die uns immer wieder einholt
und von der Vergeblichkeit aller Mühen zeugt. Die Natur werden wir niemals überwinden,
sie wächst als Unbezwingbare vielmehr mit: der Dinosaurier ist in der Abbildung und
Darstellung immer exakt so groß wie das höchste Gebäude, das wir zu einer bestimmten
Zeit bauen konnten - bis hin zu Godzilla, der heute sogar die Hubschrauber vom Himmel
holt.
Dieser Zusammenhang ist nach Mitchell nun auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts zu
beobachten. Das Museum für moderne Kunst schrieb die Kunstgeschichte zunächst als
Naturgeschichte: die Evolution der Kunst wurde konzipiert als ein survival of the
fittest - jeweils gemessen am Endziel der Moderne, der Abstraktion. Damit forderte
das Museum den Einbruch des Anderen geradezu heraus. Der Dinosaurierknochen steht
demgegenüber für eine andere Art des Bildermachens, er ist figurativ und abstrakt
zugleich. Einerseits verweist er nur noch als Spur auf seine ehemalige Präsenz,
andererseits übt er als echtes Relikt und als analoger Abdruck eine größere Faszination
aus als jedes arbiträre Zeichen. Diesen Mehrwert sucht die Kunst, die Paleoart, wieder zu
nutzen. Das Museum, ehemals Hochburg der Abstraktion, muß nun anbauen - um auch die
Geschichte des fortschrittsfeindlichen Dinosauriers zu erzählen, der keine Entwicklung
kennt, aber ewig währt. Ob als Hieroglyphe oder als Dinosaurier, die Sehnsucht nach einer
Urschrift beziehungsweise einem Urbild ist aus der abendländischen Gedächtnisgeschichte
nicht wegzudenken.
A. Geiger
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