Henri Ménudier kam auf Einladung von Prof. Oscar W. Gabriel,
Institut für Sozialwissenschaften, nach Stuttgart. Er ist der zehnte Gastwissenschaftler
aus Frankreich, dessen Lehrtätigkeit der Kooperationsvertrag zwischen der Universität
Stuttgart und der DVA-Stiftung ermöglicht. Ein Semester ist fast zu kurz,
befand Ménudier. Gerade richtig eingelebt und eingearbeitet muß man schon wieder
seine Koffer packen. Der Schüler von Alfred Grosser und Joseph Rovan sieht seine
Aufgabe darin, die Verständigung und den wissenschaftlichen Dialog zwischen Deutschen und
Franzosen fortzusetzen. Er hat zahlreiche Bücher über die deutsche Politik nach 1945
verfaßt und über die deutsch-französischen Beziehungen veröffentlicht. Die Stuttgarter
Studierenden ermunterte er unter anderem, über das politische Leben in Frankreich
und Deutschland am Beispiel der Europawahlen 1999 nachzudenken und sich mit
Francois Mitterand und der Deutschen Einheit zu beschäftigen. Denn, wie sagte
Prof. Franz Effenberger, Vorstand des Auswahlausschusses, bei seiner Begrüßung:
Die zentrale Frage, ob Europa gedeiht, liegt daran, ob Frankreich und Deutschland es
miteinander können.
Auch die DVA-Stiftung sieht ihre Aufgabe in der Vertiefung der deutsch-französischen
Beziehungen. Damit trägt sie dem Anliegen von Robert Bosch Rechnung, der sich seit dem
ersten Weltkrieg um die Aussöhnung und Freundschaft mit Frankreich bemühte. Die
Gastprofessur für französische Wissenschaftler an den Instituten für Geschichte,
Romanistik und Städtebau gibt es bereits seit 1989. Jährlich, je ein Semester lang,
lehrt und forscht seither ein Franzose an der Uni. Im Herbst 1998 wurde das Programm um
die Fächer Politikwissenschaften und Philosophie erweitert (siehe dazu Uni-Kurier Nr. 81/April 1999, S. 10f).
Ménudier: Beziehungen ambivalent
Professor Ménudier hält die deutsch-französischen Beziehungen für ambivalent:
Vieles wird gemeinsam gemacht, es gibt aber auch viele Schwierigkeiten. Diese
sieht er unter anderem auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. So habe die Agenda
2000 böse Spuren hinterlassen, da die Deutschen wohl nicht um die Bedeutung
der französischen Landwirtschaft wußten, und das Fusionsangebot der Deutschen an die
italienische Telekom verrate keinen Anstand, da die französische
Telefongesellschaft trotz guter Kooperation nicht davon benachrichtigt wurde. Im
kulturellen Bereich sei die Zusammenarbeit gut, und zudem wolle er auch nicht die
französische Politik in Schutz nehmen, denn auch sie ist nicht immer richtig.
In seiner Eigenschaft als Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit (siehe
Anm. 1) nahm auch der ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred
Rommel an dem Pressegespräch teil. Wie in einer langen Ehe dürften auch in den
Beziehungen beider Länder nicht alle Versäumnisse aufgerechnet werden, bemerkte er.
Einig waren sich Rommel und Ménudier, daß Interessenkollisionen und Mißverständnisse
an und für sich normal seien. Wichtig sei die Zusammenarbeit.
Das Interesse der Medien an der Entwicklung der
deutsch-französischen Beziehungen war rege, wie unser Foto vom Pressegespräch im
Internationalen Begegnungszentrum dokumentiert. Im Hintergrund in der Mitte Manfred Rommel
und links Prof. Dr. Helmut Engler, der Kuratoriumsvorsitzende der DVA-Stiftung.
(Foto: Eppler) |
Zu wenig Wissen über die Europäische Union
Henri Ménudier, der sich auch außerhalb der Universität stark engagiert, sprach am 21.
Juni in einem gut besuchten öffentlichen Vortrag über Deutschland und Frankreich
nach den Europawahlen. Die Menschen beklagen immer einen Mangel an Demokratie
und dann gehen sie nicht wählen, wunderte sich der Politologe angesichts der
geringen Wahlbeteiligung. Als einen möglichen Grund für den schleppenden Urnengang in
Deutschland nannte er den fehlenden Wahlkampf. Zwar habe man hier schon eigentliche
Europapolitik gemacht Agenda 2000, der Krieg im Kosovo , dennoch hätte Kanzler
Schröder mehr Wahlengagement zeigen können. Fehlendes Interesse der Bevölkerung an
Außenpolitik, zu geringes Wissen um die EU und die Anonymität der Europa-Abgeordneten
sprach Ménudier als gesamteuropäische Probleme an.
Das gute Abschneiden der CDU/CSU gegenüber der SPD sah der Deutschlandkenner als
Protestwahl, den Einzug der Grünen ins Europaparlament nur aufgrund des Dioxinskandals in
Belgien und dem Kriegsende im Kosovo. Was bedeuten Wahlen, wenn die Hälfte der
Bevölkerung nicht zur Wahl geht?, gab Henri Ménudier die Frage an seine Zuhörer
weiter. Besonders bedauerlich sei dieses Desinteresse angesichts der Tatsache, daß das
Europaparlament durch den Maastrichter Vertrag gerade mehr Kompetenzen erhalten habe,
schloß Ménudier seine Überlegungen.
Über alle frankreichbezogenen Veranstaltungen informiert die neu an der Universität
eingerichtete Koordinierungsstelle Frankreich, angesiedelt im Akademischen Auslandsamt.
Die semesterweise erscheinende Broschüre Deutsch- Französische
Wechselwirkungen kann dort bezogen werden:
Tel. 0711/121-4103 (Mo Do: 9.00 13.00), Fax 0711/121-4104; e-mail: nathalie.parent@po.uni-stuttgart.de
J. Alber
Anmerkungen:
1) Inzwischen hat Manfred Rommel diese Funktion abgegeben.
Ihm folgt der Historiker Rudolf von Thadden.
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