Der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs von einem Dutzend Länder Mittel- und
Osteuropas geäußerte Wunsch, der Gemeinschaft so schnell wie möglich beizutreten, ist
eine weitere Bestätigung des Konzepts der zu politischer Gemeinsamkeit führenden
Strategie der Förderung wirtschaftlicher Verflechtungen. Zugleich macht dies die
konzeptionellen, instrumentellen als auch die geopolitischen Grenzen dieser Strategie
deutlich.
Dabei zeigt sich, daß beide Grenzen nicht unabhängig voneinander sind. Geht man davon
aus, daß neben der Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft den flankierenden Bereichen der
Verkehrspolitik, die insbesondere für die Voraussetzungen der Realisierbarkeit des
interregionalen Austauschs von Waren und Dienstleistungen zuständig ist, und der
Regionalpolitik, die auf die Angleichung der Standortbedingungen ausgerichtet sein soll,
eine ganz besondere Bedeutung zukommt, dann ist es offensichtlich, daß Erfolge um so eher
erwartet werden können, je kleiner und homogener der Integrationsraum ist. Je größer
und heterogener dieses Territorium ist, desto größer sind die Anforderungen an die
Verkehrs- und die Regionalpolitik.
Würden heute alle beitrittswilligen Länder integriert dies hätte eine Ausdehnung der
Gemeinschaft bis an die Grenzen der Russischen Föderation, im Baltikum ebenso wie am
Schwarzen Meer, und über die Türkei und die Staaten des Kaukasus bis an das Kaspische
Meer zur Folge , dann ist unmittelbar einsichtig, daß die verkehrsmäßige Anbindung
dieser Räume, ganz abgesehen von ihrer peripheren Lage, schlecht ist und auf lange Zeit
qualitativ schlechter bleiben wird als die der bisherigen Peripherie, etwa Portugals oder
Irlands. Nur Griechenland war auch bisher schon so schlecht dran wie es die meisten der
mittel- und osteuropäischen Regionen nach ihrer Integration sein würden bzw. werden.
Einen etwas ungewohnten Blick auf Europa zeigen diese
Abbildungen: Oben ist die tägliche Erreichbarkeit im Schienenverkehr im Jahr 1993 (Anzahl
der in fünf Stunden erreichbaren Orte) und unten im Jahr 2010 zu sehen. (Quelle:
Spiekermann und Wegener: Trans-European Networks and Unequal Accessibility in Europe. In:
EUREG, Hannover 1996) |
So steht die europäische Verkehrspolitik, insbesondere der
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, vor einer Herausforderung, die allein schon von der
Größenordnung der erforderlichen Ausbau und Neubaumaßnahmen alle bisherigen
übertrifft.
Zugleich haben sich die Rahmenbedingungen für eine neue verkehrspolitische Konzeption
verändert: Die Finanzen der Gemeinschaft werden mit dem Beitritt von Ländern Mittel- und
Osteuropas in höherem Maße als früher in Anspruch genommen. Schon daher kann nicht
damit gerechnet werden, daß den neuen Mitgliedern vor und nach ihrem Beitritt mit
ähnlicher Intensität Unterstützung gewährt werden kann, wie dies durch die
Finanzierungen des europäischen Kohäsionsfonds zugunsten der bisherigen Peripherien
möglich war und jedenfalls vorläufig auch weiterhin möglich bleibt.
Zugleich ist in den Kernländern der EU die Einsicht und Bereitschaft gewachsen,
Verkehrspolitik nicht mehr für die einzelnen Bereiche der Hauptverkehrswege zu
konzipieren und durchzusetzen, sondern das Verkehrssystem als multimodales Ganzes ins Auge
zu fassen.
Entsprechend müßte auch die Prioritätenabschätzung von Infrastrukturprojekten
einerseits und die Konzipierung einer europäischen Rahmenvorstellung für die in
nationaler Zuständigkeit verbleibenden verkehrspolitischen Entscheidungen andererseits im
Prinzip von einer gemeinsamen Grundvorstellung eines europäischen Verkehrssystems
ausgehen. Eine solche Grundvorstellung, die nur in einem Abgleich zu einem Grundkonzept
einer sektorübergreifenden europäischen Raumentwicklungspolitik sinnvoll zustande kommen
könnte, gibt es aber noch nicht.
Weiter zu verfolgende erste Ansätze bestehen sowohl hinsichtlich europäischer Netze der
wichtigsten Verkehrsinfrastrukturen, vor allem der Straße und der Schiene (Trans European
Networks), allerdings sind diese in erster Linie auf die Beseitigung heute bestehender
Engpässe ausgerichtet sowie neuerdings auch hinsichtlich des Entwurfs eines
europäischen Raumentwicklungskonzepts, das bei den Überlegungen und Entscheidungen zur
Integration der europäischen Straßen- und Eisenbahnnetze innerhalb der EU und in Mittel-
und Osteuropa mitberücksichtigt werden sollte.
Die Schwierigkeiten einer solchen grundsätzlich auf integrierte Entwicklungskonzepte
auszurichtenden europäischen Verkehrspolitik liegen nicht nur wie in allen anderen
Sektorpolitiken auch darin, daß immer auch nationale Sonderinteressen berührt werden,
sondern vor allem auch darin, daß es noch an überzeugenden, hinreichend begründeten und
operationalen Methoden der raumentwicklungspolititsch orientierten multimodalen
Verkehrsplanung fehlt. Die deutsche Bundesverkehrswegeplanung, so wenig befriedigend sie
aus der Sicht der deutschen Raumentwicklungspolitik ist, kann in europäischer Sicht als
ein besonders guter Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung der Methodik multimodaler
Verkehrsplanung angesehen werden.
Einer der Schwerpunkte des neues Verbunds der Verkehrsforschung an der Universität
Stuttgart wird daher auf die Weiterentwicklung von Methoden der Bewertung integrierter
Verkehrsentwicklungpläne ausgerichtet sein. Dabei wird einerseits die Entwicklung und
Erprobung einer Methode zur bewertungsspezifischen Definition der Schnittstelle zwischen
intraregionalen und interregionalen Verkehren, andererseits die
Differenzierung von europaweit sinnvoll anwendbaren Bewertungsansätzen nach den
verschiedenen räumlichen Ebenen der Untersuchung von Verkehrsmaßnahmen im Vordergrund
stehen.
Peter Treuner
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