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Stuttgarter unikurier Nr. 82/83 September 1999
Kommunikationstechnik:
Neue Medien und ihre Folgen für Stadt, Raum und Verkehr
 

Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken lösen einen Innovationsschub aus, der weit in alle Bereiche des Lebens hineinreicht: Beruf, Ausbildung, Konsum, Freizeit, Wohnen und Gesundheit. Zwar sind die sozialen, ökonomischen und kulturellen Auswirkungen noch nicht im Einzelnen absehbar, es zeigen sich dennoch erste Konturen. Als eine der wesentlichen Folgen wird erwartet, daß räumliche und zeitliche Beschränkungen an Gewicht verlieren. In diesem Zusammenhang richten sich die Hoffnungen auf neue Chancen zur Verkehrsreduktion durch die Wiedergewinnung der Einheit von Wohnen und Arbeiten. Befürchtungen beziehen sich auf das Entstehen neuer oder das Verstärken alter Ungleichheiten und Abhängigkeiten. Aufspaltungen in neue Kategorien von Besitzenden und Nicht-Besitzenden lassen möglicherweise auch in der Raumentwicklung schärfere Trennungslinien entstehen. Äußerst zwiespältige Erwartungen verbinden sich insbesondere mit der Zukunft der Stadt. Visionen einer zukünftigen “virtuellen Stadt“ oder “Telepolis“ bewegen sich derzeit zwischen kulturkritischem Pessimismus und technikgläubiger Zukunftserwartung .

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Doch gerade im städtischen Umfeld erscheinen die Folgen, die aus den neuen Möglichkeiten der Information und Kommunikation und damit auch der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation resultieren, angesichts der Durchdringung aller Lebensbereiche kaum überschaubar. Zwar existieren einzelne herausragende Beispiele, wie auch kleinere Gemeinden im ländlichen Raum neue Technologien als Kernbestandteil kommunaler Entwicklungsplanung nutzen können. Dem stehen aber Studien zu aktuellen Entwicklungen gegenüber mit zahlreichen Hinweisen darauf, daß die Ballungsräume früher und stärker als die peripheren Räume in den Sog der elektronischen Vernetzung geraten sind und sich damit die traditionellen siedlungsstrukturellen Disparitäten eher verschärfen werden. Städtische Lebens- und Arbeitsformen öffnen sich neuen Technologien offenbar besonders leicht.

Verliert die Stadt ihre heutige Funktion?
In der Konsequenz steht möglicherweise die räumlich differenzierte und gegliederte Funktion der Stadt als ökonomisches, gesellschaftliches und kulturelles Zentrum auf dem Spiel: Indem der schnelle Datenaustausch den räumlichen Zusammenhang der ökonomischen Beziehungen innerhalb und zwischen Unternehmen zunehmend bedeutungsloser macht, lassen sich komplexe Strukturen unabhängig vom Standort der einzelnen Firmenteile, Partner und Lieferanten organisieren. Gleichzeitig ermöglicht die Vernetzung über den Computer die Aufhebung der räumlichen Bindungen, nicht nur bei Bürotätigkeiten, sondern auch bei Kontroll- und Steuerungsaufgaben im produzierenden Bereich. Waren, Dienstleistungen, Informationen und Unterhaltung können ohne realen Raum, personelle Präsenz und persönlichdirekte Kommunikation von Institutionen und Individuen angeboten und nachgefragt werden. Die Stadt wird ersetzt durch den virtuellen Marktplatz.
Läuft die Stadt Gefahr, ihre zentrale Funktion als Ort eines verdichteten und gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu verlieren? So scheint sich in verstärktem Maße die traditionelle Verankerung des Individuums in Gruppen und Organisationen zu lockern, da die Virtualität der Kommunikation sowie des Austauschs von Waren und Dienstleistungen den persönlichen Kontakt überflüssig macht. Diese Tendenz steht in Wechselwirkung mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen. Gerade in den großen Städten lebt heute der größte Teil der Kernstadtbewohner in Single-Haushalten.
Aus dem funktionalen Bedeutungsverlust der Stadt sind zunächst durchaus entlastende Wirkungen für das Verkehrsaufkommen in der Stadt selbst zu erwarten. Nicht ausgeschlossen ist jedoch eine gleichzeitige Ausdehnung des Verkehrs in die Fläche.
Untersuchungen, die heute schon räumliche und verkehrliche Wirkungen durch den Einsatz neuer Medien und Vernetzungsmöglichkeiten empirisch nachweisen können, sind kaum vorhanden. Dort, wo Erkenntnisse vorliegen, können oft nur Makrostrukturen dargestellt und erklärt werden. So wissen wir beispielsweise, daß der Anteil der Telearbeit durchaus wächst, das Potential aber noch nicht annähernd ausgeschöpft ist. Überhaupt hält die Nutzung neuer Telekommunikationsmöglichkeiten zur Effizienzsteigerung von Geschäftsvorgängen, zum Ausbau von Kooperationsmöglichkeiten und zur Erweiterung des räumlichen Aktionsradius erst ganz allmählich Einzug in die Unternehmen. Ähnliches gilt für die Verlagerung des Handels auf elektronische Netze, wo nur in einzelnen Segmenten heute bereits nennenswerte Umsätze gemacht werden. Andererseits zeigen sich doch schon erste Veränderungen individueller Mobilitätsmuster mit der Tendenz, daß mit der virtuellen auch die reale Mobilität eher zu- statt abnimmt. Die Erweiterung der Angebotsseite und der schnelle Zugang zu den Angeboten zum Beispiel im (Kurz-) Reiseverkehr ermöglichen einzelnen Bevölkerungsgruppen eine weitere Ausdehnung ihres Aktionsraumes sowie eine zeitliche Verdichtung ihrer Aktivitäten.
Dennoch überwiegt der spekulative Charakter der Forschung über die Auswirkungen der Medien noch immer. Dies hat eine Reihe von Gründen. Der wichtigste ist ohne Frage, daß sich die neuen Technologien immer noch mitten im Prozeß der Verallgemeinerung befinden, wenn auch je nach Einsatzfeld in einem mehr oder weniger fortgeschrittenen Stadium. Manchmal wird noch mit dem Einsatz der Medien experimentiert und ihr Potential im Versuch ausgelotet ­ der Pilotcharakter dominiert ­, an anderer Stelle haben sich bereits Routinen und Standards etabliert. Unabhängig davon jedoch erweist sich die empirische Erfassung des Einsatzes neuer Medien und ihrer Auswirkungen als außergewöhnlich komplex und schwierig, nicht zuletzt aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich die Entwicklung vollzieht.

Moderierende Forschungsbegleitung
Um so dringlicher erscheint es, die Entwicklungen durch eine Art der Forschung zu begleiten, bei der die wissenschaftliche Analyse mehr denn je Entscheidungshilfen für die Akteure auf politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene sein kann. Dabei sollte sich die Wissenschaft auch verstärkt der Aufgabe zuwenden, sich als unabhängige und gleichzeitig angesehene gesellschaftliche Institution an der Moderation der Technikentwicklung im Spannungsfeld der verschiedenen Akteursinteressen zu beteiligen und dabei ihre Möglichkeiten zu interdisziplinärem Vorgehen ausschöpfen.
Ein erster Schritt in diese Richtung war die fach- und fakultätsübergreifende Ringvorlesung, die im Wintersemester 1998/99 vom Städtebau-Institut, vom Institut für Geographie und vom Institut für Straßen- und Verkehrswesen der Universität Stuttgart veranstaltet wurde. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen wurde der Frage nachgegangen, wie die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die räumliche und vor allem die städtische Entwicklung beeinflussen werden. Diese Standortbestimmungen aus sozialwissenschaftlicher, ökonomischer sowie raum- und verkehrswissenschaftlicher Sicht können inzwischen auf einen breiteren Fundus von Erfahrungen, Forschungen und tatsächlicher Praxis zurückgreifen, als dies noch vor Jahren der Fall war. Darüber hinaus war es möglich, einzelne Ausschnitte der Anwendungsbereiche neuer Medien detailliert zu beleuchten sowie die Befunde aktueller empirischer Untersuchungen und praktischer Erfahrungen zu Bereichen wie Telearbeit, electronic commerce und virtueller Stadtverwaltung vorzustellen. Eine Publikation der Vorträge ist in Vorbereitung und wird unter dem Titel “Neue Medien und ihre Folgen für Stadt, Raum und Verkehr“ noch in diesem Jahr in der Birkhäuser-Reihe “Stadtforschung“ erscheinen. Die breite Resonanz dieser Vorlesung, die weit über den universitätsinternen Interessentenkreis von Studierenden und Dozenten hinausreichte, hat gezeigt, daß der Informations- und Diskussionsbedarf zu diesem Themenfeld beträchtlich ist.

Johann Jessen, Barbara Lenz, Walter Vogt

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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