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Stuttgarter unikurier Nr. 84/85 April 2000
Leibniz-Preis für Entwicklungen in der Quantenchemie:
Genauer als Experimente - und früher
 

Prof. Dr. Hans-Joachim Werner, Direktor des Instituts für Theoretische Chemie der Universität Stuttgart, hat den mit 1,5 Millionen Mark dotierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhalten. Diese Entscheidung gab der Hauptausschuß der DFG im Dezember bekannt. Die feierliche Verleihung der Preise fand am 10. Februar diesen Jahres im Bonner Wissenschaftszentrum statt. Hans-Joachim Werner leitet seit 1994 das Institut für Theoretische Chemie der Universität Stuttgart. In der Widmung der DFG heißt es, daß sich der Stuttgarter Wissenschaftler international einen Namen mit der Entwicklung von Methoden und Computeranwendungen in der Theoretischen Chemie, speziell der Quantenchemie, gemacht habe. Die Bedeutung dieser Disziplin wurde zuletzt auch dadurch unterstrichen, daß der mit 200.000 Mark dotierte Landesforschungspreis Baden-Württemberg im Januar diesen Jahres an den Karlsruher Chemiker Prof. Dr. Reinhart Ahlrichs vergeben wurde. (Zum Leibniz-Preis siehe auch den folgenden Kasten.)

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Ab initio - Konstruktionen vor der Wirklichkeit
Aber was geschieht in der Quantenchemie? Wen schon immer fasziniert hat, warum Mathematik auch in der Wirklichkeit funktioniert, obwohl doch ein Punkt keine Ausdehnung hat, sich Parallelen in der Unendlichkeit schneiden sollen und mit einer transzendenten Zahl jeder simple Kreis berechnet werden kann, findet in den Arbeiten der modernen Quantenchemie reichlich Nahrung. Hier sollen Eigenschaften und Reaktionen von Molekülen und Atomen genauer berechnet und vorhergesagt werden, als dies mit Reagenzglas oder Mikroskop möglich wäre. Das notwendige mathematische Besteck liegt schon lange bereit - die in den zwanziger Jahren von Schrödinger und anderen aufgestellten Gleichungen der Quantenmechanik, in denen die Bewegungsgesetze der mikrophysikalischen Welt beschrieben sind. Im Prinzip können damit auch die größeren, für die chemischen Prozesse relevanten Moleküle von ihren Grundbestandteilen ausgehend mit sogenannten ab-initio-Methoden berechnet werden. Das heißt im Klartext: ohne Experiment und Empirie könnten Eigenschaften bestehender oder neuer chemischer Verbindungen bestimmt werden.

Das Problem der Wechselwirkungen
Doch eben nur im Prinzip, denn mit der Größe der Moleküle (und der Anzahl der beteiligten Atome) steigt die Anzahl der zu berücksichtigenden Wechselwirkungen, vor allem zwischen den für die chemischen Eigenschaften wichtigen Elektronen. Da alle Elektronen dieselbe Ladung besitzen, stoßen sie sich gegenseitig ab und vollführen komplexe Ausweichmanöver. Diese „Elektronenkorrelation“ wird zur Hauptherausforderung für die Berechnungen, und die hier möglichen Näherungsverfahren waren bislang stets von der zur Verfügung stehenden Rechenleistung abhängig und konnten bis zur Entwicklung moderner Computer überhaupt nicht sinnvoll durchgeführt werden. Und bis vor kurzem waren die Grenzen trotz Gigabyte und Teraflop sehr eng gesteckt, da die Komplexität genauer Rechnungen mit der Größe der Moleküle nicht linear, sondern exponentiell anstieg. Als Faustregel galt, daß eine Verdoppelung der Molekülgröße die Rechenzeit um den Faktor 100 verlängert, eine Vervierfachung um den Faktor 10.000 usw.


Prof. Dr. Hans-Joachim Werner

Neue Näherungsverfahren
Ein wichtiger Bereich der Forschungen des diesjährigen Leibniz-Preisträgers, Prof. Dr. rer. nat. Hans-Joachim Werner, befaßt sich mit der Entwicklung neuer Näherungsverfahren, mit denen auch größere Moleküle ohne wesentlichen Verlust an Genauigkeit in einer vertretbaren Zeit berechnet werden können. Es ist den Wissenschaftlern am Institut für Theoretische Chemie der Universität Stuttgart gelungen, Methoden zu entwickeln, bei denen die Rechenzeit nur noch linear ansteigt. Das heißt, eine Verdoppelung der Molekülgröße führt nur zur Verdoppelung der Berechnungszeit. Lediglich die lokalisierten stark korrelierenden Elektronenpaare werden bei dieser Methode berücksichtigt, schwache entfernte Wechselwirkungen werden vereinfacht behandelt oder können sogar vernachlässigt werden. Auf diese Weise ist es erstmals gelungen, ab initio Rechnungen für Moleküle mit mehr als 100 Atomen und 500 korrelierten Elektronen durchzuführen. Rechnungen, die bisher Tage oder Wochen auf Supercomputern benötigten, konnten jetzt auf Personalcomputern durchgeführt werden.

Potentialflächen als Gang im Gebirge
Unter Verwendung sehr genauer Elektronenstrukturmethoden konnte der Nachweis erbracht werden, daß die Form der Potentialflächen, mit deren Hilfe chemische Reaktionen beschrieben werden können, hauptsächlich von der Elektronenkorrelation bestimmt wird. Potentialflächen lassen sich mit einem Gebirge vergleichen, bei dem der Übergang der Atome von einem Tal über einen Paß in ein anderes Tal den Übergang des Produktes von einem Zustand in einen anderen beschreibt. Die Paßhöhe bestimmt also die Geschwindigkeit der Reaktion, je niedriger, um so schneller kann sie erfolgen. Und wenn das neue Tal tiefer als das vorhergehende liegt, wird Energie frei wie etwa Wärme bei einer Verbrennungsreaktion.

Theorie und Experiment passen
Experimentell können die molekularen Veränderungen bei einer chemischen Reaktion in modernen Molekularstrahlexperimenten sehr detailliert untersucht werden. Mit den Stuttgarter Berechnungsmethoden konnte zum ersten Mal eine volle Übereinstimmung der theoretischen Vorhersagen mit allen experimentellen Daten erzielt werden. Dies gelang für die seit langem intensiv untersuchten Reaktionen von Fluor und Chlor mit Wasserstoff. Dabei zeigte sich, daß quantenmechanische Effekte wie Tunneln und sogar relativistische Effekte einen erheblichen Einfluß auf die Dynamik der chemischen Reaktion besitzen. Das dabei zum Einsatz gebrachte Programmsystem MOLPRO umfaßt inzwischen etwa eine halbe Million Programmzeilen und wird weltweit von über 200 Arbeitsgruppen eingesetzt. Und auch industrielle Anwender haben ihr Interesse angemeldet, etwa für die Vorhersage von Reaktionswärmen. Schon heute beteiligt sich die chemische Industrie auch finanziell an der Weiterentwicklung der Methoden und Programme. /eng

KONTAKT
Prof. Dr. rer. nat. Hans-Joachim Werner, Institut für Theoretische Chemie, Pfaffenwaldring 55/8, Tel: 0711/685-4401, Fax: 0711/685-4442, e-mail: sekretariat@theochem.uni-stuttgart.de

Der Leibniz-Preis:
Auszeichnung und Werbung für die Wissenschaft

Wegen seines hohen Renommees wird der nun zum 15. Mal vergebene Leibnizpreis inzwischen als der „deutsche Nobelpreis“ bezeichnet. Seit der ersten Vergabe im Jahr 1985 habe er sich im Urteil der Wissenschaftler und in der Öffentlichkeit als ein wesentliches Element der Forschungsförderung etabliert, resümierte der Präsident der Kultusministerkonferenz, Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, bei der letztjährigen Preisverleihung. Benannt ist der Preis nach Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosoph, Mathematiker, Theologe, Naturwissenschaftler und Ingenieur, Geschichts- und Sprachforscher, dem allerdings erst posthum der große Ruhm eines genialen Universalgelehrten zuerkannt wurde. Aber das mit seinem Namen verbundene universale Spektrum der Wissenschaften kennzeichnet den heutigen Leibnizpreis, der immer für mehrere Fächer vergeben wird. In diesem Jahr erhalten 15 Wissenschaftler den höchstdotierten deutschen Förderpreis, der vom Hauptausschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergeben wird. Die mit größerem apparativen Aufwand arbeitenden Wissenschaftler erhalten ein Preisgeld von drei Millionen, die stärker theoretisch ausgerichteten Forscher von 1,5 Millionen, jeweils für Forschungsarbeiten über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Förderung der Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftler ist das unmittelbare Ziel des Wissenschaftspreises, indirekt soll damit aber auch Werbung in der Öffentlichkeit für die Bedeutung der Wissenschaft gemacht werden. Diese Aufgabe wird bei den alljährlichen Preisverleihungen immer wieder zum Ausdruck gebracht. „Die wichtigste wissenschaftliche Aufgabe für das nächste Jahrhundert ist die richtige Kommunikation mit der Öffentlichkeit.“ Mit diesen Worten zitierte Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn im vergangenen Jahr den Wissenschaftsberater des englischen Premiers Tony Blair, Robert May. /eng

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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