Nichtlineare
Wechselwirkungen in Vielteilchensystemen bringen immer
wieder faszinierende Phänomene hervor. In den letzten
Jahren hat sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf sogenannte
„Getriebene Vielteilchensysteme“ konzentriert, in denen
kontinuierlich Energie aufgenommen wird. Die Energie kann
dabei von außen in das System gelangen, wie etwa bei fallendem
oder gerütteltem Sand. Die Energie kann aber auch aus
den beteiligten Teilchen selber stammen, wie zum Beispiel
bei der Dynamik des Straßenverkehrs oder in Fußgängeransammlungen.
Typischerweise wird diese Energie durch einen „Reibungsmechanismus“
absorbiert („dissipiert“, wie die Physiker sagen), so
daß das System durch den Wettbewerb zwischen energiegewinnenden
und energieabsorbierenden Prozessen charakterisiert wird.
Dieses Wechselspiel führt zu einer faszinierenden und
häufig unerwarteten Vielfalt von raumzeitlichen Bewegungsmustern.
Verkehrsdynamik
Fällt zum Beispiel Sand durch ein vertikales Rohr, bilden
sich „Dichtewellen“, die Ähnlichkeiten zu den Stauwellen
im Stop-and-Go-Verkehr auf Autobahnen aufweisen. Für Ingenieure
ist es selbstverständlich, die Dynamik der Dichtewellen
bei der Konstruktion von Silos und Trichtern zu berücksichtigen.
Markanteste Beispiele für selbst-getriebene Teilchen sind
jedoch der Fahrzeug- und Fußgängerverkehr, mit denen sich
das junge und rasch wachsende Forschungsgebiet der „Verkehrsdynamik“
beschäftigt. Hier stehen unter anderem Fragen zur Entstehung
von „Staus aus dem Nichts“ oder nach den Regelmäßigkeiten
des „Stop-and-Go-Verkehrs“ auf Autobahnen im Vordergrund.
Des weiteren wurde über die Möglichkeiten einer Kurzzeit-Verkehrsprognose
diskutiert.
Verkehrssteuerung
Die Wissenschaftler erwarten - so hat die Tagung gezeigt
- aus den computergesteuerten Simulationen auch Hinweise
für neue verkehrslenkende Maßnahmen. Neben den bekannten
Tempolimits oder Lkw-Überholverboten an Steigungen haben
die Simulationen gezeigt, daß auch Zuflußregelungen an
Einfahrten, lokale Spurwechselverbote und die elektronische
Kommunikation zwischen Fahrzeugen als aussichtsreiche
Maßnahmen gelten können.
Selbstorganisierte
Fußgänger
Auch die Analyse des Fußgängerverkehrs hat unerwartete
Phänomene zutage gefördert. In einem zunächst unkontrolliert
wirkenden Menschengewühl bilden sich rasch Bahnen, in
denen sich Fußgänger in einheitlicher Richtung bewegen.
An Kreuzungen kann sich wie von Geisterhand ein praktischer
Kreisverkehr selbstorganisieren, obwohl es zunächst keine
Vorzugsrichtung gab, und vor Verengungen, auf die von
beiden Seiten Leute drängen, entstehen Oszillationen der
Durchgangsrichtung, die ein Fortkommen sichern. Nimmt
die Menschendichte jedoch zu und entsteht gar eine Panik,
so verringert sich schlagartig der Durchsatz beträchtlich;
dieses gegenintuitive Phänomen wird „freezing by heating“
genannt.
Social
Dynamics
Auf einer abstrakteren Ebene können auch ökonomische und
soziale Systeme als nichtlineare selbstgetriebene Vielteilchensysteme
betrachtet werden, zum Beispiel der Prozeß der Meinungsbildung
oder die Dynamik von Wirtschaftszyklen. In letzter Zeit
wird vor allem die Modellierung der Dynamik von Währungs-
und Aktienmärkten intensiv untersucht, da dort die Datenlage
besonders gut ist. Eine der Fragestellungen dieses neuen
Gebiets der „Econophysics“ ist die Untersuchung von Möglichkeiten,
starke Fluktuationen oder Crashs zu vermeiden. /eng
KONTAKT
Dr. Martin Treiber, II. Institut für Theoretische Physik,
Universität Stuttgart, Pfaffenwaldring 57, 70550 Stuttgart,
Tel: 0711/ 685-4917, Fax: 0711/685-4902, e-mail: treiber@theo2.physik.uni-stuttgart.de