Bei
der zweiten Sonntagsmatinee überhaupt und ersten im neuen
Jahrtausend ging es um nicht weniger als die Dynamik komplexer
Systeme in Natur und Gesellschaft, oder anders gesagt:
Entwickelt sich ein komplexes System irreversibel oder
kommt es früher oder später wieder zurück in seinen ursprünglichen
Zustand, entsprechend einer wiederkehrenden Periodizität?
Als Grundlagenwissenschaft zähle die Physik zum „harten
Kern unserer Kultur“, stellte Wolfgang Weidlich seinem
Vortrag voran, und da es schon mal 1000 Jahre dauern könne,
bis Naturgesetze als richtig anerkannt werden, bewahre
der Physiker die Ruhe - auch angesichts der anstehenden
Hochschulreform.
Ewige
Wiederkehr oder ewiges Fließen
Für die Theorien zu Unumkehrbarkeit und Umkehrbarkeit
in Natur und Geschichte führte Prof. Weidlich eingangs
zwei allseits bekannte Größen an. Als Vertreter der Unumkehrbarkeit
gilt der griechische Philosoph Heraklit, der das ständig
Fließende betonte - „niemand steigt zweimal in denselben
Fluß“. Anders dagegen äußerte sich der deutsche Philosoph
und klassische Philologe Friedrich Nietzsche, der sich
in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ fragt: „Müssen
wir nicht ewig wiederkommen?“ und daraus seine Lehre von
der Ewigen Wiederkehr des Gleichen ableitet. Froh, angesichts
der späten Morgenstunde alle Zuhörer ausgeschlafen vorzufinden
und damit auch zum Mitdenken befähigt, wandte sich Wolfgang
Weidlich nun ausführlich der mathematischen Seite des
Problems zu. Damit der Formelschock aber nicht zu tief
ausfiel, angereichert mit vielen Beispielen: Ein Kasten
mit Vakuum, darin ein Behälter mit Gas. Strömt das Gas
aus, dann verteilt es sich im ganzen Kasten, und bis jetzt
hat sich noch keiner daran gemacht, es wieder zurückzubringen,
denn das wäre eine „Heidenarbeit“. Und Weidlich fügte
an, „da wir es nicht hinkriegen, ist es nicht verwunderlich,
daß wir es noch nicht beobachtet haben.“
Boltzmanns
Gleichung
Der französische Mathematiker Henri Poincaré - ein Vertreter
der Wiederkehrtheorie - argumentierte wie üblich mit Formeln,
und verständlicher mit Wassertropfen, die sich in der
Form, jedoch nicht im Volumen ändern und schließlich für
das Wiederkehrtheorem sprechen. Einen gegenläufigen Gedanken
brachte der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann
ins Spiel. Er ging davon aus, daß Verteilungsfunktionen
einem Gleichgewicht zustreben und was in diesem Gleichgewicht
vorliegt, nicht wieder in die Ausgangslage zurückkehrt.
Hier mußte Prof. Weidlich leider anfügen: „Physiker haben
oft ein hartes Leben.“ Boltzmann blieb die Anerkennung
seiner Leistung versagt, was ihn tief getroffen hat und
ihn 1906 gar zum Selbstmord brachte. Indessen werden heute,
100 Jahre nach der Aufstellung seiner Gleichung, die eine
der Grundlagen der Statistischen Physik bildet, ganze
internationale Kongresse zu Ehren Boltzmanns und seiner
Gleichung abgehalten.
Soziodynamik
Trotz des Vorherrschens von Irreversibilität in Natur
und Geschichte werden aber immer wieder periodische oder
zyklische Prozesse beobachtet wie beispielsweise das bekannte
Räuber-Beute-Verhältnis. Nimmt die Anzahl der Beutetiere
ab, sinkt zeitlich verzögert die Anzahl der Jäger, bis
sich die Beutetiere zahlenmäßig wieder erholen und damit
auch die Räuberzahl ansteigt. Für solche periodischen
Subprozesse wurden im Rahmen der „Soziodynamik“ mathematische
Modelle entwickelt, mit denen die Abläufe erfaßt und verstanden
werden können.
Der
Restaurant-Zyklus
Ein praktisches Beispiel dazu wurde den gespannt lauschenden
Hörern zum Schluß mit auf den Weg gegeben. Gerade richtig
für die Zeit kurz nach 12 Uhr - der Restaurant-Zyklus
in vier Stufen. Zu Anfang das noch unbekannte neue Restaurant
mit wenig Gästen. Um mehr Gäste zu gewinnen, wird in Phase
zwei die Qualität des Essens verbessert. Dies führt in
der dritten Phase zu mehr Gästen und einer Qualitätsreduzierung,
worauf in der letzten Phase die Anzahl der Gäste wieder
abnimmt. Der Rat des Fachmanns: Ein Restaurant aufsuchen,
das am Anfang der zweiten Phase steht, das bietet Qualität
und freie Plätze.
J.
Alber