Stuttgarter unikurier
Nr. 84/85 April 2000 |
Komplex vernetzte
Systeme:
Vorausschauende
Assistenzfunktionen im Kraftfahrzeug |
Ein
modernes Fahrzeug ist heute ohne Elektronik nicht mehr
vorstellbar. Die technologische Entwicklung im Bereich
elektronischer Systeme im Kraftfahrzeug, verbunden mit
zunehmender Digitalisierung, bietet der Kfz-Industrie
immer neue Möglichkeiten zur Verbesserung und Erweiterung
vorhandener Funktionen. Während ursprünglich einzelne,
voneinander unabhängige elektrische Funktionen wie beispielsweise
Leerlaufregelungen für Verbrennungsmotoren oder das ABS
(Antiblockiersystem) angeboten wurden, geht der Trend
heute hin zu komplexen, vernetzten Systemen innerhalb
des Fahrzeugs.
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Bisher
hat die Erfassung fahrzeugspezifischer Zustandsgrößen
über Sensoren einen entscheidenden Beitrag zur Qualität
der jeweiligen Funktion geleistet. Je mehr die Elektronik
über den aktuellen Fahrzustand „weiß“, desto bessere Funktionen
können im Fahrzeug realisiert werden. Beispielsweise ist
es durch Messung der Beschleunigung möglich geworden,
Airbags so rasch anzusteuern, daß bei einem Unfall großer
Schaden vom Menschen abgewandt werden kann. In den letzten
Jahren haben den Fahrer entlastende Funktionen zugenommen,
wie etwa Tempomaten oder automatisierte Schaltgetriebe.
Diese Assistenzfunktionen sollen den Fahrkomfort und die
Fahrsicherheit erhöhen sowie gleichzeitig den Kraftstoffverbrauch
oder Schadstoff- und Akustikemissionen verringern. Durch
Sensoren, die Informationen über den aktuellen Fahrzustand
liefern, ist eine weitere Optimierung dieser Assistenzfunktionen
nur in kleinen Schritten möglich. Werden Informationen
über die Fahrzeugumgebung einbezogen, kann künftig eine
neue Klasse von vorausschauenden Fahrerassistenzfunktionen
entwickelt werden. Ein einfaches Beispiel soll dies veranschaulichen.
Ein Fahrer, der sich einer Steigung nähert, wird unter
Umständen einen Gang zurückschalten, um das Fahrzeug mit
gleichbleibender Geschwindigkeit fortzubewegen. Heutige
Automatikfahrprogramme werden diese vom Fahrer erwartete
Rückschaltung frühestens dann auslösen, wenn sich das
Fahrzeug bereits in der Steigung befindet. Wäre in diesem
Beispiel das Höhenprofil der vorausliegenden Strecke der
Steuerung bekannt gewesen, hätte eine Schaltung schon
vor der Steigung automatisiert durchgeführt werden können.
Zur Fahrzeugumgebung gehört jedoch auch die momentane
Verkehrssituation. Der Verkehr wird immer dichter, die
Wartezeiten und Staus werden länger. Diese Entwicklung
wird sich fortsetzen. Wer bei solch einem Verkehrsaufkommen
mobil bleiben will, muß sich über die Situation auf der
Straße ständig informieren. Auch diese Aufgaben, wie beispielsweise
eine zeitoptimierte Routenplanung, müssen deshalb in Zukunft
von vorausschauenden Assistenzfunktionen gelöst werden.
Eine kurz vor der Serienproduktion stehende Assistenzfunktion
mit Vorausschau ist der Abstandstempomat der neuen S-Klasse
von DaimlerChrysler: Ein Radargerät am Kühlergrill mißt
die Wegstrecke zu einem vorausfahrenden Fahrzeug. Dadurch
wird zusätzlich zur bekannten Geschwindigkeitsregelung
eine Abstandsregelung zu vorausfahrenden Fahrzeugen möglich.
So kann ein Komfortgewinn bei längeren Konstantfahrten
erreicht werden; bei zu kleinen Sicherheitsabständen wird
automatisch gebremst und gleichzeitig der Fahrer optisch
und akustisch gewarnt.
Die Umgebung im Blick
Um vorausschauende Fahrerassistenzfunktionen zu entwickeln,
müssen Daten über die vorausliegende Umgebung im Fahrzeug
erfaßt werden. Dazu wird zwischen zeitinvariante und zeitvariante
Umgebungsinformationen unterschieden. Als zeitinvariant
werden die Informationen eingestuft, die sich zeitlich
nicht ändern. Dies gilt beispielsweise für Geschwindigkeitsbegrenzungen
oder für die Topographie der Fahrstrecke. Zeitvariante
Informationen dagegen wie eine Ampelsteuerung oder die
Geschwindigkeit eines vorausfahrenden Fahrzeugs können
sich ständig ändern. Zeitinvariante Informationen könnten
durch eine Erweiterung von digitalen Straßenkarten eingebracht
werden. So wäre es heute technisch realisierbar, ein Topographieprofil
entlang der digitalen Straßennetze abzuspeichern. Zusatzinformationen
über die Position von Verkehrsschildern und Ampeln sind
denkbar. Informationen über Tunnel oder Unterführungen
sind bereits heute auf der digitalen Straßenkarte abgelegt.
Als Informationsquellen für zeitvariante Daten sind mehrere
Varianten denkbar. Durch den bereits beschriebenen Abstandssensor
wird das vorausfahrende Fahrzeug erfaßt. Aktuelle Stauinfomationen
werden heute bereits mittels RDS (Radio Data System) oder
durch Telekommunikation übertragen. In Zukunft wären auch
intelligente Ampeln denkbar, die ihre Information über
die Schaltzeiten beispielsweise per Funk an ihre Umgebung
weitergeben. Ortsfeste Sensoren, beispielsweise fest installierte
Kameras, bestimmen die momentane Verkehrssituation und
Wetterverhältnisse. Zusätzliche Daten liefert eine Verkehrsüberwachung
aus der Luft. Auch Fahrzeuge werden als Sensoren genutzt.
Dazu werden interne Fahrzeuggrößen zusammen mit der über
das GPS (Global Positioning System) bestimmten Fahrzeugposition
zur Verfügung gestellt. Alle Daten werden von einer Zentrale
empfangen, erfaßt und ausgewertet. Eine Plausibilitätsüberprüfung
stuft Daten erst dann als richtig ein, wenn eine bestimmte
Anzahl gleicher Informationen eingetroffen sind. Die so
zentral erfaßten Daten können nun anderen Verkehrsteilnehmern
zur Verfügung gestellt werden.
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Sicherheit
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Komfort
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Verbrauch
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Fahrerinformation |
X
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X
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Fahrerwarnung |
X
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Airbag |
X
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Scheinwerfer |
X
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X
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Klimaregelungen |
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X
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Schaltstrategien |
X
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X
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X
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Fahrstrategien |
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X
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Optimierung
von Assistenzfunktionen bezüglich Sicherheit, Komfort
und Verbrauch durch Informationen über die Fahrzeugumgebung.
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Vor
dem Stauende wird die Warnblinkanlage aktiviert
Die Menge der zusätzlich gewonnenen Daten wird uns in
Zukunft die Möglichkeit geben, Funktionen zu entwickeln,
für die uns heute vielleicht noch die Vorstellung fehlt.
In einem ersten Schritt lassen sich bestehende elektronische
Systeme optimieren, die in der Tabelle zusammengefaßt
sind. Die einfachste Variante, vorausschauende Informationen
zu nutzen, liegt in einer erweiterten Fahrerinformation.
Denkbar wäre beispielsweise eine zusätzliche Visualisierung
von wichtigen Informationen (wie Geschwindigkeitsbegrenzungen,
Baustellen usw.). Um den Fahrer nicht abzulenken, könnten
diese Informationen in Zukunft auf in der Windschutzscheibe
integrierten Durchsichtsdisplays dargestellt werden. Der
Übergang zur Fahrerwarnung ist dabei fließend. Neben der
Warnung vor Stauenden oder Glatteis könnte das Wissen
über die Topographie dazu genutzt werden, Nutzfahrzeuge
mit Gefahrengütern vor gefährlichen Fahrstrecken zu warnen
und gegebenenfalls Alternativrouten vorzuschlagen. Bei
starkem Gefälle könnte sogar die Gangwahl in einen höheren
Gang verboten oder bei einem bevorstehenden Stauende die
Warnblinklichtanlage aktiviert werden.
Kuppen
- optimal ausgeleuchtet
Ein anderes Anwendungsgebiet sind intelligente Airbags.
Diese könnten schon dann auslösen, wenn mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit ein Auffahrunfall unvermeidbar
wäre. Hier könnte beispielsweise die Abstandsinformation
der beschrieben Radarsensoren ihren Beitrag leisten. Auch
die Scheinwerferregelung kann durch Wissen über die Fahrzeugumgebung
optimiert werden. So kann die Regelung des Scheinwerfer-Nickwinkels
mit der Neigung des Fahrzeugs mitgeführt werden, um eine
optimale Ausleuchtung beispielsweise einer Kuppenfahrt
zu ermöglichen. Denkbar wäre auch die vorausschauende
Ausleuchtung einer vorausliegenden Kurve oder Kreuzung.
Durch Information über Tunnels könnte eine Steuerung automatisch
das Licht oder die Umluft aktivieren. Die Kenntnis über
die Witterung könnte dazu genutzt werden, Nebelschlußleuchten
an- bzw. auszuschalten oder die Fahrgeschwindigkeit zu
begrenzen. Ein weiteres Verbesserungspotential für Komfort
und Verbrauch steckt in der Realisierung vorausschauender
Schalt- und Fahrstrategien. Wie bei Bergfahrten können
auch vor Kurven Schaltungen eingeleitet werden, was weiterhin
die Akzeptanz automatischer Schaltungen erhöhen würde.
Durch zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten auf die Fahrpedalstellung
oder sogar das Lenkrad können Fahrstrategien integriert
werden, die verbrauchsoptimierte Fahrweisen vorschlagen
oder den Fahrer bei kritischen Situationen im Straßenverkehr
unterstützen.
Forschung
nutzt zusätzliche Daten
Durch die Auswertung der Sensorsignale im Kraftfahrzeug
können viele Fahrerassistenzfunktionen realisiert werden.
Doch auch bei einer großen Anzahl von Eingangsgrößen stellt
die Nachbildung des vorausschauenden Verhaltens eines
Fahrers ein bis heute nur zum Teil gelöstes Problem dar.
Durch den Einsatz moderner Satellitennavigationssysteme
werden jedoch neue Möglichkeiten in der Entwicklung von
Fahrerassistenzfunktionen eröffnet. Durch die Kombination
von erweiterten Straßenkarten, der aktuellen Position
des Fahrzeugs und Zusatzinformationen können Rückschlüsse
auf das zu erwartende Verhalten eines Fahrers gezogen
werden. Weitere Forschungsaktivitäten werden deshalb die
umfangreichen, zusätzlich über Satelliten- und Telekommunikation
zur Verfügung gestellten Daten für weitere Verbesserungen
des Kraftfahrzeugs hinsichtlich Sicherheit, Komfort und
Verbrauch nutzen.
Dieter
Hötzer, Jochen Wiedemann, Michael Bargende
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