Stuttgarter unikurier
Nr. 84/85 April 2000 |
Ganzheitliche
Modellierungsaufgabe:
Verkehrsprognosen
- Rückkopplungen garantiert |
Die
mathematische Modellierung der Verkehrsnachfrage steht
vor der reizvollen Aufgabe, nicht nur den aktuellen Verkehrszustand
aus gegebenen und geschätzten Daten zu ermitteln, sondern
diesen Zustand auch für einen ausgewählten Zielhorizont
zu prognostizieren. Anders als beim Wetter, wo keine Rückkopplung
zwischen Wetterbericht und Verlauf des Wetters zu erwarten
ist, gilt im Verkehr, daß die Prognose das Verhalten der
Verkehrsteilnehmer verändert und damit unmittelbar Rückwirkungen
auf die Prognose selbst hat.
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Ein
geschlossenes Modell für das Gesamtsystem Verkehr ist
aufgrund der hohen Komplexität - insbesondere wenn alle
wesentlichen Verkehrsträger betrachtet werden - nicht
zu erwarten. In Abhängigkeit vom Systemanfang sowie von
der räumlichen und zeitlichen Auflösung kann man sich
für Kurzzeitprognosen bis zu einer Stunde mit Zeitreihenanalyse
und Adaption abgelegter standardisierter zeitlicher Verläufe
einen ersten Weg durch das Dickicht der vielfältigen gegenseitigen
Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten schlagen. Dieser Ansatz
kann in einer Verfeinerung unter Einschluß von Budget-
und Zeitrestriktionen und einer modelltechnischen Abbildung
des Übergangs von der Mikroebene der Einzelaktivitäten
auf die Makroebene räumlich und zeitlich zusammengefaßter
Aktivitäten ausgebaut werden, um die Rückkopplungen durch
die Verbreitung von Verkehrsinformationen in Form von
Befolgungsgradmaßnahmen für verkehrssteuernde Eingriffe
realitätsnäher zu berücksichtigen. Bisher liefern vor
allem in die Straßen eingelassene Induktionsschleifen
die Daten über Verkehrsstärke und mittlere Geschwindigkeit.
Diese Erfassungsmethode hat jedoch ihre Tücken. Zum einen
sind die Schleifen anfällig gegen Zerstörung der Fahrbahndecke
durch schwere Fahrzeuge wie Lastkraftwagen und Busse.
Zum anderen ist es wegen des beachtlichen Verlegungsaufwands
nicht möglich, in genügender Auflösung für eine zeitliche
und räumliche Prognose die Schleifen zu installieren.
Die künftige Verkehrstechnik setzt daher auf zusätzliche
Erfassungstechniken, bei denen Fahrzeugprobanden über
Mobilfunk Geschwindigkeit und Verkehrsbelastung übermitteln
oder in denen mit satellitengestützter Fernerkennung der
Verkehrsablauf ermittelt wird. Mit Verkehrsablaufsimulation
können zudem modellgestützte Erfassungslücken geschlossen
und auf der Basis des aktuellen Verkehrszustands die zukünftige
Verkehrslage prognostiziert werden. Da diese Prognose
auch von zukünftigen Meßwerten an den Rändern des modellierten
Verkehrsnetzes abhängt und unvorhersagbare Störungen Auswirkungen
auf den gesamten Verkehrsfluß haben können, ist eine solche
Prognose nur als eine Kurzzeitprognose bis zu einer Stunde
sinnvoll. In einer ersten Auswertung von Messungen im
Stadtnetz von München ist die Bewertung des Kurzzeitprognoseansatzes
aus Zeitreihenanalyse und Verwendung von standardisierten
Tagesganglinien gelungen. Dabei zeigte sich, daß eine
lineare Regression aus fünf zurückliegenden Meßwerten
(Fünf-Minuten-Intervalle) und eine Klassifizierung in
Standardtagesganglinien (Werktage ohne Samstage, Samstage,
Sonn- und Feiertage) zusammengefügt über Gewichtsfaktoren
aus Prognosezeitschritt und Prognosehorizont die besten
Ergebnisse für eine Kurzzeitprognose liefert. Diese Prognose
verzichtet auf eine explizite Rückkopplung und ist auf
einen Verkehrsträger beschränkt. Für Verkehrssteuerungsaufgaben
an kritischen, überlastungsgefährdeten Abschnitten, an
Zufahrten zu Stadien, Messen und großen Konzertveranstaltungen
oder in Tunnelabschnitten werden diese Ansätze künftig
bei der Verkehrssteuerung über Ampeln und Hinweisschilder
verwendet. Die Lichtsignalanlagen steuern dabei in der
Regel ganze Gebiete und berücksichtigen die zu erwartenden
kritischen Verkehrssituationen in einer Flächensteuerung.
In der Verkehrsplanung gehen die Zeithorizonte jedoch
weit über die der Kurzzeitprognose hinaus. Hier müssen
- will man sich nicht nur auf eine reine Trendextrapolation
beschränken - neue Wege versucht werden. Der jüngst gegründete
Forschungsverbund zum Schwerpunkt Verkehr an der Uni Stuttgart
hat sich dieser Aufgabe verschrieben und wird eine Reihe
von Ansätzen verfolgen. Dabei geht es vor allem um drei
Bereiche: (I) Vereinheitlichung von ökonomisch basierter
und verkehrswissenschaftlich basierter Nachfragemodellierung,
(II) simultane Modellierung der Verkehrsverteilung, Verkehrsmittelaufteilung
und Verkehrsumlegung, (III) Modellierung der Verkehrserzeugung
und Beschreibung der zeitlichen und räumlichen Veränderung
durch Quantifizierung der Lagegunst insbesondere von Wohn-
und Produktionsstandorten. Verkehrsplanungsmodelle und
Verkehrsablaufmodellierung sind zwei Seiten derselben
Medaille. Es spornt die Verkehrswissenschaftler schon
seit langem an, eine Integration der kurz- und langzeitigen
Verkehrsmodellierung zu versuchen. Wie eine solche Integration
aussehen könnte, ist im Schema skizziert: Eingabegrößen
sind Verkehrsnetze, Flächennutzung für den Verkehrsplanungsteil
sowie Optimierungsstrategie und geometrische Entwurfskriterien
für den den Verkehrsablauf betreffenden Teil. Das Verkehrsplanungsmodell
liefert die Verkehrsbelastungen auf den Netzkanten des
jeweiligen Verkehrsträgernetzes. Das Verkehrsablaufmodell
benutzt diese Belastungen, um unter Anwendung der Optimierungsstrategie
für vorgegebene Entwurfskriterien Reisezeiten einschließlich
Störungen und belastungsabhängiger Verzögerungen zu ermitteln.
Damit aus der Verkehrssimulation und den über die Belastungen
aus den Verkehrsplanungsmodellen berechneten Reisezeiten
keine Differenzen entstehen, bedarf es gegebenenfalls
mehrerer Iterationen bis zum Erreichen eines stabilen
Gleichgewichts. Am Ende steht für verschiedene Zeithorizonte
eine Prognose der Verkehrsqualität, der Umweltbelastung
und der gesamtgesellschaftlichen Kosten für einen Verkehrskorridor
oder eine komplette Untersuchungsregion.
Reinhart
D. Kühne
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