Räume als Immunsysteme
Peter Sloterdijk schrieb seine Kulturgeschichte des Raumes
als dreibändigen Essay über Blasen, Sphären und Schäume
und sucht dabei Raumgebilde vom Uterus bis zum Weltall
zu umfassen. Er bezeichnet den Menschen dabei als Gefäßmacher,
der sich den Raum erst schafft, in dem er dann lebt. Metaphysik
sei nichts anderes als Metakeramik, das heißt die Hervorbringung
von Hohlräumen, die uns als Blasen und Sphären die lebensnotwendige
Hülle gewähren. Das Gefäßbauen begann zum Beispiel mit
dem Hestia gewidmeten Herd, der durch seine Wärmeausstrahlung
einen ersten Raum bildet. Der Herd ist daher älter als
das Haus, das erst im Nachhinein darum gebaut wurde. Auch
die Sprache entstand erst in der Nähe von solchen warmen
Plätzen, so daß in der weiteren Entwicklung Sprach- und
Architekturtheorie zusammenfielen, aus Töpfen wurden Texte
und aus Keramikern Philologen. Die Beherrschung von Rändern
und Grenzen, von autonomen Schachteln und Verschachtelungen
von Blasen zu Schäumen beschreibt Sloterdijk als den immunologischen
Sinn des Städte- und Weltenbaus. Ohne solche schützenden
Häute könnten wir weder leben noch denken.
Leibliches Wohnen im Raum
Eine weniger dramatische Sicht des Raumproblems aus phänomenologischer
Sicht stellte der Philosoph Bernhard Waldenfels vor. In
seinem Vortrag zum leiblichen Wohnen im Raum stellte er
zunächst fest, daß uns die Frage des Raumes weniger wichtig
erscheint, da Räume im Vergleich zur technischen Beschleunigung
der Zeit geradezu statisch wirken. Im Gegensatz zu Sloterdijk
entwickelte Waldenfels daher auch keine Evolutionstheorie
des Raumes, sondern suchte die Konstanten der Raumsprache
zu ergründen. So läßt sich zum Beispiel der Zusammenhang
von Raum und Identität feststellen: Wer „hier sagt, meint
immer auch „ich bin hier. Auch der Körper gibt uns Leitlinien
bei der Bewertung des Raumes. Der aufrechte Gang läßt
uns das klare Verhältnis zum Boden zum Maßstab nehmen,
vor dessen Hintergrund wir ein „drunter und drüber als
gestörte Beziehung empfinden, so wie auch vorne und hinten
als positive Vor- und negative Rückseite gewertet werden.
Die eigene Leiblichkeit in unsere Raumbeschreibung einzubringen
ist somit der erste Reflex unserer antropomorphen Wahrnehmung.
Ohne den Leib würden uns sinnvolle Markierungen einfach
fehlen. Gleichzeitig deutete Waldenfels aber auch die
Möglichkeit von virtuellen Räume an: Sie entfalten sich
als Feld von Möglichkeiten, für die vor allem der Kosmos
als hüllenlose, unendliche Vision steht.
Ideologie und Terror in Shakespeares Geschichtsbild
Weniger die heimelige Kraft des Wohnlichen als vielmehr
die menschengemachte Macht des Unheimlichen beschäftigte
den Anglisten Stephen Greenblatt. Erst seit dem Rationalisierungsprozeß
der Moderne bringen wir die Toten unter die Erde, um sie
endgültig zu begraben. Zu Shakespeares Zeiten weilten
sie als Gespenster noch sehr viel mehr unter uns - und
bevölkerten vor allem die Theaterbühnen. In „Richard III.
inszenierte Shakespeare einen Herrscher, der die Träume
seiner Untergebenen durch gespenstischen Terror zu lenken
weiß. Die Überschreitung der Legalität durch den König
wird gleichgesetzt mit der Überschreitung der Realität.
Die Träume des Anderen zu beherrschen, kafkaeske Alpträume
in seinem Unterbewußtsein auszulösen, so die Lektion Shakespeares,
heißt, ihn absolut zu beherrschen. Richard III. wird von
dem Dramatiker zu einem solchen „secret agent der Hölle
stilisiert. Die Sprache und Medialität des Alptraums läßt
sich gerade in diesem Stück glänzend erklären. Der schlechte
Traum eines einzelnen wird zum Symbol für die Lage des
Königreichs. Auch das Theater wird durch das Zusammenfallen
von Privatheit und Öffentlichkeit wieder zu einem Raum,
in dem sich die Gesellschaft erfahren und erkennen kann.
A. Geiger
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