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Stuttgarter unikurier Nr. 84/85 April 2000
Ringvorlesung über Zeit und Kultur:
Was ist Zeit heute?
 

Dem Diktum von Hans Reichenbach, „that the study of time is a problem of physics“, mag heute kaum noch jemand folgen. Weder erschließt sich die Struktur der Zeit allein über eine Befragung der Natur noch können die sozialen und kulturellen Probleme, die mit modernen Zeiterfahrungen und -ordnungen zusammenhängen, adäquat erfaßt werden, wenn Zeit als bloß physikalische Koordinate sozialer Prozesse in Erscheinung tritt. Zeit muß als kulturelles Phänomen begriffen werden. Unter dem Titel „Zeit und Kultur“ veranstaltete die Abteilung Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie eine Ringvorlesung, die aus interdisziplinärer Sicht Fragen der kulturellen Konstruktion und Repräsentation von Zeit diskutierte.

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Punktuelle Zeit der Medien
Die These von der kulturellen Prägung der Zeit war allen Vortragenden gemeinsam, doch die unterschiedlichen Zugangsweisen zeigten gleichwohl, welch komplexe Fragestellungen, Themen und Begründungsprobleme in dieser Aufgabenstellung beschlossen liegen. Das Hauptaugenmerk galt den vielfältigen Verflechtungen von Zeit, Medien und Wahrnehmung. Dem Einfluß moderner Kommunikationsmedien wie dem Internet auf die zeitlichen Grundstrukturen menschlicher Wahrnehmung gingen Götz Großklaus (Karlsruhe), Peter Gendolla (Siegen) und Mike Sandbothe (Jena) nach. Während Gendolla eine Geschichte der Zeitwahrnehmung und -erfahrung von der Zeit des Mythos bis zur „Internet-Time“ entwarf und diese als Übergang von der zyklischen über die lineare hin zur punktuellen Zeit pointierte, thematisierte Sandbothe Zeit und Zeiterfahrung im Internet unter pragmatischen Aspekten. Aber auch hier wurde mediale Zeiterfahrung vor allem als punktuelle Zeiterfahrung gefaßt. Dieser Befund relativiert die traditionellen Auffassungen über die zeitlichen Grundstrukturen des modernen Geschichtsbewußtseins. Punktuelle Zeiterfahrung vermag keinen kulturellen Sinn stiftenden Zusammenhang mehr zu gewährleisten.

Verstehen der Zeit
Dieter Mersch (Darmstadt) zog im Hinblick auf das Verhältnis von Zeit und performativer Kunst dann auch die geschichtsphilosophisch interessante Konsequenz: Erinnerung löst sich in singuläre Ketten verstreuter Ereignisse auf. Geschichte dispersiert zu isolierten Begebenheiten. Inwiefern diese These eine radikale Erschütterung unseres kulturellen Selbstverständnisses impliziert, konnte die Konfrontation mit Zeit- und Geschichtlichkeitskonzepten bei Friedrich Schiller und Martin Heidegger verdeutlichen, über die Matthias Neumann (Stuttgart) und Andreas Luckner (Leipzig) referierten. Aber so wie die Analyse medial bewirkter Veränderungen unserer Zeitwahrnehmung einen Perspektivenwechsel im philosophischen Bedenken der Zeit provoziert, bleibt zu prüfen, inwieweit das analytische Begriffsinstrumentarium durch kulturelle Selbstverständnisse imprägniert ist, die gleichsam im Rücken liegen. Das ist genuines Thema einer Philosophie der Zeit. Dem Wechselverhältnis von Zeitvorstellung, Begriffsprägung und Medienentwicklung in bezug auf die philosophische Erfassung derselben ging Michaela Ott (Berlin) nach, indem sie am Beispiel von Gilles Deleuze zeigte, wie die Ausprägung einer philosophischen Zeittheorie mit der Entwicklung des Mediums Film zusammenhängt. Christoph Hubig und Elke Uhl (beide Stuttgart) suchten die wechselseitigen Voraussetzungen unter der Fragestellung einer „Wirklichkeit“ der Zeit zu explizieren. Die vielfältigen Begründungsprobleme einer philosophischen Konzeption von Zeit wurden deutlich. Unter dem Titel „Zeit und Kultur“ verbirgt sich immer noch ein großes Forschungsfeld.

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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