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Stuttgarter unikurier Nr. 86 September 2000
DFG-Schwerpunktprogramm Sprachproduktion:
Was geschieht beim Sprechen im Gehirn?
 

Seit drei Jahren untersuchen Wissenschaftler des Instituts für Maschinelle Sprachverarbeitung der Universität Stuttgart sowie der Neurologischen und Neuroradiologischen Klinik der Universität Tübingen in einem gemeinsamen Projekt die Grundlagen der Sprachverarbeitung im menschlichen Gehirn. Dabei bedient sich die Forschergruppe der noch jungen Methode der funktionellen Kernspintomographie, die es erlaubt, neuronale Aktivität im Gehirn aufzuspüren und mit hoher Genauigkeit zu lokalisieren. Bei dem im DFG-Schwerpunktprogramm „Sprachproduktion - Informationsvermittelung durch natürliche Sprache“ derzeit mit einer halben Million Mark geförderten Projekt handelt es sich um das einzige mit neurolinguistisch-medizinischer Ausrichtung. Die Stuttgarter und Tübinger Wissenschaftler wollen die Funktionsweise des menschlichen Gehirns bei der Entstehung von Sätzen, der Auswahl von Wörtern und der Artikulation von Äußerungen aufzeigen. Gegenüber dem klassischen Paradigma zur Identifikation sprachrelevanter Hirnregionen, das bei klinischen Störungen der Sprachfähigkeit ansetzt, ermöglichen die modernen bildgebenden Verfahren, das gesunde Gehirn in Aktion sehen und untersuchen zu können.

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Erst die Ende der 80er Jahre einsetzende rasante, technische Entwicklung im Bereich der bildgebenden Verfahren ermöglichte den Paradigmenwechsel zur Untersuchung der realen Prozesse im Gehirn. Nun kann man bestimmte kognitive Leistungen gezielt stimulieren und die damit verbundene neuronale Aktivität lokalisieren und damit eine funktionelle Kartographie des gesunden Gehirns erstellen. Auch das interdisziplinäre Projekt der Universitäten Stuttgart und Tübingen um Prof. Grzegorz Dogil vom Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung verfolgt diesen Ansatz. Alle Ebenen der Sprachproduktion, von den motorischen Aspekten der Artikulationskontrolle bis hin zu höheren kognitiven Funktionen wie der Bildung von Sätzen, werden in enger Zusammenarbeit von Linguisten, Neurologen und Neuroradiologen experimentell untersucht.

Funktionelle Kernspintomographie
Die Methode der Wahl für große Forschungsprojekte dieser Art, die mehrere Versuchsreihen und zahlreiche freiwillige Teilnehmer erfordert, ist die funktionelle Kernspintomographie (functional Magnetic Resonance Imaging, fMRI). Das Funktionsprinzip der fMRI basiert darauf, daß in der Umgebung aktiver Nervenzellen ein stärkeres elektromagnetisches Signal gemessen werden kann als in inaktiven Bereichen. Mit Hilfe modernster Computertechnologie werden zahlreiche solcher Messungen zu einem Schichtbild des gesamten Hirnvolumens zusammengesetzt. Am Ende der Auswertung steht eine Statistical Parametric Map (SPM), die signifikant aktivierte Hirnareale in einer hochauflösenden anatomischen Aufnahme farblich markiert.

Motorik in Bereitschaft
Die ersten Versuchsreihen des Projekts wurden im Bereich der Artikulationskontrolle durchgeführt. Zwei Ergebnisse verdienen dabei besondere Erwähnung. Zum einen konnte die Funktion des Inselkortex, dessen Rolle im Sprachproduktionsprozeß bisher umstritten war, genauer bestimmt werden. Im Vergleich zwischen tatsächlichem Sprechen und innerem, d.h. nur vorgestelltem Sprechen, konnte gezeigt werden, daß die Aktivierungsmuster des sprechmotorischen Systems bei beiden Aufgaben identisch war; mit Ausnahme der Aktivierung des Inselkortex in der linken Hemisphäre, die nur beim tatsächlichen Sprechen zu beobachten ist. Dies bedeutet zum einen, daß selbst dann, wenn wir uns nur vorstellen zu sprechen, ohne Lippen und Zunge tatsächlich zu bewegen, unser motorisches Kontrollsystem nahezu vollständig aktiviert ist. Zum anderen zeigt sich, daß der Inselkortex nicht, wie bisweilen vermutet, in die Planung von Sprechbewegungen involviert ist, sondern ausschließlich für die tatsächliche Ausführung dieser komplexen Bewegungen zuständig ist.

Neuheit aufwendiger als Komplexität
Ein zweites Experiment zur Artikulation läßt Rückschlüsse auf generelle Verarbeitungsprinzipien des menschlichen Gehirns zu. Entgegen der ursprünglichen Annahme, je komplexer die motorische Anforderung, desto größer die neuronale Aktivität, zeigte sich eine Abnahme sowohl der Ausbreitung als auch der Stärke der Aktivierung mit zunehmender Komplexität. Dies deutet darauf hin, daß häufig benutzte, ’überlernte’ motorische Muster, wie etwa Sprechsilben, in Form festgefügter Programme in einem mentalen Lexikon gespeichert sind und mit geringem Aufwand abgerufen werden können, während selten genutzte oder neue Muster ’online’ geplant und koordiniert werden müssen - mit entsprechend größeren Anforderungen an das motorische System unseres Gehirns.

Prosodie
Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts in der ersten Phase lag auf der Untersuchung der Prosodieproduktion. Unter Prosodie versteht man Dinge wie Wortbetonung, Sprachmelodie und Sprechrhythmus. Damit können einerseits linguistische Eigenschaften in einer Äußerung transportiert werden, wie die Unterscheidung gleicher Wörter durch unterschiedliche Silbenbetonung, andererseits können damit auch nicht-sprachliche, im weitesten Sinne emotionale Informationen wie Trauer oder Freude vermittelt werden. Angesichts der Schnittstellenfunktion der Prosodie am Rande des sprachlichen Systems ist es nicht verwunderlich, daß die klinische Forschung in diesem Bereich zu sehr divergenten Ergebnissen gekommen ist, da sehr viele und sehr verschiedene Erkrankungen zu Auffälligkeiten in der Prosodie führen können, ohne daß jedoch die Prosodiegenerierung an sich betroffen sein muß. Vor diesem Hintergrund wurde von den im Projekt beteiligten Linguisten ein Design entworfen, das die Isolierung und damit die gezielte Untersuchung der Variation prosodischer Parameter (Sprachgrundfrequenz, Segmentdauern und Intensität) im Sprachproduktionsprozeß erlaubt. Das Experiment zeigte, daß es im Gehirn des Menschen keinen ’Prosodiegenerator’ gibt, d.h. kein Hirnareal, das sich auf diese Aufgabe spezialisiert hat. Vielmehr werden je nach Erfordernis besonders geeignete Hirnregionen zur Verarbeitung herangezogen. Die Verteilung der jeweils aktivierten Regionen bestätigten die neueren Erkenntnissen aus der Perzeptionsforschung, wonach die linke Großhirnhemisphäre speziell die schnell veränderlichen, hochfrequenten Anteile eines sensorischen Eindrucks verarbeitet, die rechte Hemisphäre dagegen eher niedrigfrequente, relativ stabile Anteile.

Am Ende des Projekts soll ein möglichst umfassendes funktionell neuroanatomisches Modell entstehen, welches die wesentlichen Aspekte der Sprachproduktion berücksichtigt. Die Relevanz eines solchen Modells im Hinblick auf ein besseres Verständnis der menschlichen Sprachfähigkeit ist unbestritten. Wie die bisherigen Ergebnisse jedoch zeigen, muß ein solches Forschungsprojekt nicht auf einen Aspekt der Kognition beschränkt bleiben, sondern liefert auch allgemeine Erkenntnisse über die Funktionsprinzipien unseres Nervensystems. 

Mayer/eng

KONTAKT
Dr. Jörg Mayer, Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung der Universität Stuttgart, Azenbergstr. 12, 70174 Stuttgart,
Tel. 0711/121-1379, Fax 0711/121-1366
e-mail: Joerg.Mayer@ims.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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