Zur Einführung: Ein Interview
Uni-Kurier:
Das Jahr 2000 ist zum Jahr der Physik ernannt worden. Dies geschieht am Ende eines Jahrhunderts, das auch als Jahrhundert der Physik bezeichnet wurde. Neue Wissenschaften rund um die Biologie, heute gerne als Life-Sciences bezeichnet, werden viel beachtet. Wo steht die Physik? Ist es Zeit für ein Resümee, stehen wir an einer Wende oder gar vor einem Neubeginn?
Prof. Dr. Klaus von Klitzing
1943 in Schroda bei Posen geboren, studierte in Braunschweig und Würzburg, habilitierte 1978 in Würzburg, bis 1984 Professor an der TU München, seit 1985 Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und Honorarprofessor an der Universität Stuttgart, zahlreiche Forschungsaufenthalte in England, Frankreich und den USA, 1985 Nobelpreis für Physik für die Entdeckung des Quanten-Hall-Effekts. |
von Klitzing:
Es stimmt natürlich, daß im letzten Jahrhundert die Physik dominant war. Das sieht man nicht zuletzt an den zahlreichen Jubiläen in den letzten Jahren, wie 100 Jahre Röntgenstrahlen usw. Auch was ein Elektron überhaupt ist, weiß man erst seit rund 100 Jahren. Und in diesem Jahr haben wir ein besonderes Fest: 100 Jahre Quantenmechanik. Max Planck hat am 14. Dezember 1900 einen Vortrag gehalten, bei dem er im Prinzip die Plancksche Konstante eingeführt hat und damit die Quantentheorie begründete.
Meines Erachtens befindet sich die Biologie heute in der Situation wie die Physik vor hundert Jahren, als all die grundlegenden Dinge noch nicht geklärt waren. Deshalb steckt hier ein großes Potential für Unerwartetes und Neues. Aber ich bin gar nicht der Meinung, daß die Physik deshalb auf dem absteigenden Ast sitzt. Wenn ich heute mit Biologen spreche, sagen sie mir immer, wie wichtig die physikalischen Methoden für ihre Arbeit sind, etwa die Sequenzierung, die Analysemethoden, vieles dort basiert auf physikalischen Meßtechniken. Ich glaube vielmehr, daß die Naturwissenschaften in Zukunft mehr als Einheit betrachtet werden müssen. An der zu erwartenden Dynamik in den Naturwissenschaften in den kommenden Jahren werden alle Gebiete beteiligt sein.
Pilkuhn:
Die Physik verfolgt zwei wesentliche Anliegen: Zum einen dient sie als Grundlagenwissenschaft der Naturerkenntnis, zum anderen hat sie aus der Anwendung dieser Erkenntnisse zahlreiche praktische Disziplinen hervorgebracht, insbesondere im Bereich der Ingenieurwissenschaften.
Die Physik hat zu wichtigen Veränderungen in unserer gesamten Gesellschaft geführt, etwa durch die Entdeckung des Transistoreffekts, was zur Mikroelektronik, zu Computern und insgesamt zur Informationsgesellschaft geführt hat. Diese Entwicklung stößt jedoch in der Nanoelektronik in naher Zukunft an physikalische Grenzen, so daß die Physik wiederum zu neuen und ganz anders gearteten Lösungen herausgefordert ist. Kommt eine Molekularelektronik? Können wir einzelne Atome für die Datenspeicherung benutzen? Dies sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Dramatisch ist auch die Entwicklung in der Optik, insbesondere in der Laseroptik. Auch hier liegen Zukunftsaufgaben für die Physik. Heute sagt man bereits, das vorige Jahrhundert sei das Jahrhundert des Elektrons gewesen, das kommende werde aber das Jahrhundert des Photons sein.
Die Physik wird in Zukunft immer mehr interdisziplinär andere Gebiete durchdringen. Hier ist die Biologie ein gutes Beispiel, und die Entwicklung einer Biophysik gehört zu den besonders interessanten und aufregenden Zukunftsaufgaben.
Uni-Kurier:
Sie haben große Bereiche der modernen Physik bereits erwähnt. Kann man dabei so etwas wie eine Grundrichtung ausmachen oder geht es mehr in die Spezialisierung einzelner Disziplinen?
von Klitzing:
Wenn man es global betrachtet, zerfällt die Physik in Zukunft nach meiner Auffassung in drei Gebiete: die Astrophysik, die dem Ursprung des Universums mit faszinierenden Fragen im ganz Großen nachgeht. Dann fragt man, etwa in der Hochenergiephysik, nach dem ganz ganz Kleinen, was ist der kleinste Baustein usw. Und die dritte große Säule, bei der auch Stuttgart besonders stark ist, besteht in der realistischen praktischen Physik - den Materialwissenschaften. Wir leben und arbeiten mit Materialien, wollen neue Eigenschaften, neue Funktionen, neue Materialien entdecken. Hier ist in Stuttgart große Kompetenz vorhanden, sowohl beim Max-Planck-Institut als auch in der Universität. An der Universität wird jetzt die Optik besonders betont. Denn Optik ist nicht nur das, was man sieht, sondern alle Wellen, Radarwellen, alle Übertragungswege, die sehr schnell sind, die mit Lichtgeschwindigkeit arbeiten, gehören eigentlich zur Optik, und insofern spricht in der Tat vieles dafür, daß das Gebiet des Lichtes die heutige Elektronik ablösen kann.
Ein weiterer Schwerpunkt, der mit Sicherheit auch in den nächsten Jahrzehnten eine große Rolle spielen wird, sind die Nano-Strukturen, also sehr kleine Materialien, in denen wir neue Funktionen, neue Eigenschaften suchen. Wenn heute von einem Quantensprung gesprochen wird, dann erfolgt dieser auch bei der Verkleinerung von Halbleitermaterialien. Auch dies ist ein Schwerpunkt, für den Stuttgart bekannt ist.
Uni-Kurier:
Kann man also sagen, daß die Entdeckungen und theoretischen Entwicklungen vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts, wie die Quantenmechanik, jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts praktisch zum Tragen kommen?
von Klitzing:
Ja genau, und dies in vielerlei Hinsicht. Wir sind heute in der Lage, den Studierenden auch anschaulich klar zu machen, welch dominierende Rolle die Quantenmechanik bei einem großen Teil von Bauelementen spielt. In der Halbleiterphysik etwa kann man bereits Show-Versuche mit der Quantenmechanik machen. Und das Schöne daran ist, daß wir die Theorie in den Versuchen verifizieren können, daß wir die Quantenmechanik testen und plausibel machen können. Die Quantenmechanik wird heute nicht mehr als fremd empfunden. Ich denke hierbei auch an ganz neue Entwicklungen wie den Quantencomputer - das ist wirklich Quantenmechanik in der höchsten Vollendung. Das sind neue Richtungen, von denen wir noch nicht wissen, wie erfolgreich sie sein werden, die aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sehr interessant sind.
Uni-Kurier:
Gibt es eine besondere Arbeitsweise, die den heutigen Physiker charakterisiert? Oder organisatorische Strukturen, auf die physikalische Forschung angewiesen ist?
von Klitzing:
Wenn man zurückblickt auf die letzten 100 Jahre, dann sieht man, daß man keine Vorhersagen machen sollte. Denn es werden immer wieder ganz neue Sachen entdeckt, an die niemand vorher gedacht hatte. Als ich zum Beispiel 1985 den Quanten-Hall-Effekt entdeckt habe, war ein Jahr vorher eine Veröffentlichung erschienen über das Ende der Festkörperphysik.
Ein guter Physiker ist dafür bekannt, daß er einfach fragt, beobachtet und ein Modell entwickelt, mit dem er optimal die Natur und die Phänomene beschreiben kann. Nach unserer Erfahrung haben wir immer mehr Fragen, als wir beantworten können. Ich vergleiche das gerne mit einer Kugel: der Inhalt ist unser Wissen und je größer dieses Wissen wird, desto größer wird auch die Oberfläche, die die Schnittstelle vom Nichtwissen zum Wissen bildet. Deswegen wird die Spezies der Leute, die offene Fragen haben und Fragen stellen, nicht aussterben.
Prof. Dr. Manfred Pilkuhn
1934 in Insterburg geboren, studierte in Braunschweig und Dublin, habilitierte 1967 in Frankfurt, mehrjährige Forschungsarbeit bei IBM in New York, seit 1969 ordentlicher Professor an der Universität Stuttgart, Dekan der Fakultät Physik und Geschäftsführender Direktor des Physikalischen Instituts, zahlreiche Gastprofessuren in Japan, USA und Südamerika, Gründer des Mikrostrukturlabors der Universität Stuttgart und des Sonderforschungsbereichs Molekularelektronik. |
Pilkuhn:
In der Tat ist die Arbeitsweise der heutigen Physiker ungemein vielseitig und reicht vom Experiment bis zur Theorie, wobei Simulation und Computer-Einsatz immer wichtiger werden. Wichtig für die Arbeit des Physikers ist die wissenschaftliche Wechselwirkung, und hierzu gibt es eine sehr große Zahl von Tagungen, Symposien, Workshops und Vortragsreihen, nicht zuletzt natürlich in Stuttgart. Die Zeiten des Einzelforschers im stillen Kämmerlein sind längst vorbei. Die Physik ist schon lange eine internationale Wissenschaft, in der die Umgangssprache Englisch ist. Die Folge ist, daß Physiker sehr viele internationale Kontakte zu Kollegen in Ländern wie USA, Japan, Frankreich, China usw. pflegen. Auch dies, so hat sich gezeigt, trägt gerade bei jungen Leuten sehr zur Attraktivität des Faches bei.
Uni-Kurier:
Herr Prof. Pilkuhn, als Dekan der Fakultät Physik sind Sie wesentlich an den Aktivitäten zum Jahr der Physik beteiligt. Selbstverständlich dienen diese auch zur Werbung um den wissenschaftlichen Nachwuchs. Eine jüngste Studie sieht große Versäumnisse in den Schulen. Wie beurteilen Sie die Situa-tion, speziell in Stuttgart?
Pilkuhn:
Es ist richtig, daß unsere Aktivitäten zum Jahr der Physik auch Werbung um den wissenschaftlichen Nachwuchs bedeuten. Die jungen Menschen, die Physik studieren, haben sich immer sehr engagiert und motiviert gezeigt. Bis vor kur-zem hatten wir - insbesondere in Stuttgart - eine hohe Zahl von Bewerbern für das Physikstudium. Dies hat sich in jüngster Zeit geändert, obwohl die Stellensituation für Physiker so ausgezeichnet ist, wie nie zuvor. Möglicherweise gibt es hier große Informationsdefizite. Die Hauptaufgabe der Schulen sollte es sein, den Spaß an der Physik zu vermitteln und damit das Interesse bei jungen Menschen zu wecken. Da liegen vielleicht auch Versäumnisse vor.
Die Physikausbildung an den Universitäten ermöglicht eine vielseitige Beschäftigung in Industrie und Forschung, im Management und in der Politik; man denke an Frau Angela Merkel. Unsere Absolventen haben durchweg sehr er-folgreich Karriere gemacht, haben hohe Stellungen in der Industrie, Verwaltung und Forschung, und wir können auf Preise und Auszeichnungen verweisen wie die Nobelpreise für Physik. Die Voraussetzungen für ein Physikstudium - und das gilt wohl für die
meisten Fächer - sind hauptsächlich das persönliche Engagement und das Interesse. Daß das Physikstudium schwieriger als ein anderes sein soll, muß ich in den Bereich der Vorurteile verweisen.
Wir bemühen uns derzeit, in den Schulen für unser Fach zu werben und insbesondere auch Frauen für das Physikstudium zu gewinnen. Ich halte den augenblicklichen Mangel an Physikstudierenden insgesamt jedoch für eine vorübergehende Erscheinung. Denn sicher ist, wer jetzt anfängt zu studieren, hat anschließend die besten Be- rufschancen.
Uni-Kurier:
Die Physik in Stuttgart ist unter anderem durch die ausgezeichnete Zusammenarbeit von Universität und Max-Planck-Instituten geprägt. Die MPG will die Zusammenarbeit in Zukunft noch verstärken, so war in einer Veröffentlichung der Gesellschaft zu lesen. Ist in der Physik ein Fortschreiten ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit, ohne Forschergruppen und ohne internationalen Austausch überhaupt noch denkbar?
von Klitzing:
Wenn Sie die Beziehungen zwischen Universität und Max-Planck-Instituten ansprechen, so muß hier nichts neu angestoßen werden. Wir haben schon lange mit Herrn Pilkuhn zusammengearbeitet, gerade auch auf dem Gebiet der Halbleitertechnik, bevor überhaupt gefragt wurde, wie man kooperieren könne. Es ist doch einfach eine Notwendigkeit, große Apparaturen und Einrichtungen gemeinsam zu nutzen. Das ist ganz natürlich, und die Flexibilität gerade der Physiker ist hierbei außerordentlich groß. Wo optimale Bedingungen existieren, werden sie auch genutzt. Da gibt es keine Grenzen. Fast jeder Physiker, der in der Forschung bleibt, ist im Ausland gewesen.
Uni-Kurier:
Also ist in der Physik die Internationalität schon gelebte Realität?
von Klitzing:
Ja, das ist Realität. Schauen Sie, wir haben im Max-Planck-Institut zu jeder Zeit ungefähr 100 ausländische Gäste im Haus. In den meisten Labors ist Englisch die Laborsprache. Durch den neuen Master-Studiengang Physics werden die englischen Kurse an der Universität angeboten. Das heißt, die Internationalität wird sich noch weiter verstärken.
Pilkuhn:
Zwischen Universität und den Max-Planck-Instituten haben sich, wie schon erwähnt, vor allem durch den gemeinsamen Schwerpunkt in der Festkörperphysik starke Verknüpfungen ergeben. Hinweisen möchte ich auf die gemeinsame Nutzung der einmaligen Elektronenstrahl-Mikroskope mit der besten örtlichen Auflösung der Welt. Durch Zusammenarbeit und Arbeitsteilung wird immer eine effektive Ausnutzung der Ressourcen erzielt. So erfolgt die Herstellung von sehr dünnen Halbleiterfilmen am Max-Planck-Institut mit der Molekularstrahl-Epitaxie, und dies wird mit Parallelergebnissen an Filmen, die mit metallorganischer Gasphasenepitaxie an der Universität hergestellt wurden, verglichen.
Uni-Kurier:
Erlauben Sie mir zum Abschluß eine persönliche Frage. Mit welchen Argumenten würden Sie Ihren Kindern zum Physik-Studium raten?
von Klitzing:
Ich persönlich habe meinen Kinder nicht dazu geraten, auch Physik wie der Vater zu studieren, um jeglichen Anschein von Bevorzugung zu vermeiden. Da bin ich ein Preuße. Aber sie machen trotzdem alle Naturwissenschaften und ich finde das auch gut so. Ich erlebe es immer wieder, daß Leute Angst haben vor der Technik und vor vielen Sachen, die sie nicht verstehen. Gerade Physiker und Naturwissenschaftler allgemein sind dagegen eher Realisten und deshalb meist auch Optimisten, weil sie etwas von den Dingen verstehen, weil sie selber einschätzen können, wo die Risiken und wo die Vorteile liegen.
Wer studieren will, muß Enthusiasmus mitbringen und Dynamik und Spaß an der Sache. Die Physik hat den Vorteil, daß man immer überprüfen kann, was man tut, wo Ideologien keine Rolle spielen, wo dagegen die Globalität sehr wichtig ist.
Das Gefühl für das Spannende an der Sache und der Drang, die Neugier zu befriedigen, wenn man Fragen hat, das sind die treibenden Kräfte, die einen Wissenschaftler ausmachen. Fast jeder Wissenschaftler sieht seinen Beruf auch als Hobby an.
Pilkuhn:
Hier kann ich Herrn von Klitzing nur zustimmen. Ich würde meinen und auch anderen Kindern zum Physikstudium mit den Worten raten „Physik macht Spaß und ist aufregend“. Ich würde aber dann noch hinzufügen, daß man als Physiker durchaus eine lukrative Karriere erwarten kann.
Uni-Kurier:
Herr Prof. Pilkuhn, Herr Prof. von Klitzing, wir danken für das Gespräch.
Die Fragen stellte Dr. Ulrich Engler.
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