Stuttgarter unikurier
Nr. 87 April 2001 |
Kulturtheorien
- Slavoj Zizek:
Pornos
und Orangen - für eine Kulturwissenschaft der Phantasmen
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Pornos
und Orangen seien für die Bürger des ehemaligen Ostblocks
das zentrale Objekt der Begierde gewesen. Als sie nach
dem Fall der Mauer frei darüber verfügen konnten, verfielen
sie der Melancholie, denn die Sehnsucht nach diesen Dingen
war letztlich schöner als ihr Besitz. Slavoj Zizek ist
sich bewußt, daß er mit solchen Bemerkungen gegen den
guten Ton verstieß - absichtlich, wie er hinzufügt, denn
was sei schon befreiender als ein herzhafter Verstoß gegen
die political correctness. Mit weiteren frivolen Einfällen
und ironischen Randbemerkungen brachte der slowenische
Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Zizek im November
letzten Jahres sein Publikum zum Schmunzeln, obwohl es
ihm eigentlich um eine ernste Botschaft ging.
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In
seinem Vortrag „Love without Mercy: A Reading of Kieslowskis
Blue“, zu dem das Zentrum für Kulturwissenschaften in
Zusammenarbeit mit der Breuninger Stiftung und der Stadtbücherei
eingeladen hatte, betrachtete Zizek die Konstruktion unserer
Wirklichkeit durch die Fiktionen des Kinos. Der polnische
Regisseur Kristof Kieslowski erweist sich als Meister
dieses Fachs. Er hat den Dokumentarfilm aufgegeben, weil
er verstand, daß das unmittelbare Abfilmen der Realität
zu direkt sei für den Betrachter. Die rohe Wirklichkeit
ist schlichtweg nicht rezipierbar wie Zizek anmerkt,
respektieren selbst Pornofilme diese Regel, indem sie
uns immer nur Fiktionen zeigen und nicht die Sache selbst.
In seinem Film „Blau“ aus der Trilogie „Drei Farben“ spielt
Juliette Binoche eine junge Frau, die ihren Mann nicht
nur durch einen tödlichen Unfall real verliert, sondern
aus seinem Nachlaß auch erkennen muß, daß sie ihn schon
vorher an eine andere verloren hatte. Sie hat also nicht
einmal besessen, was ihr nun genommen war. Die Macht dieses
Traumas läßt sie aus allen Ordnungsmustern fallen. Die
Wirklichkeit in ihrer ganzen Härte anzunehmen, kommt hier
der Selbstzerstörung gleich. Ihre Rettung erfährt die
Protagonistin durch den Wiedereintritt in die Fiktionen
der Gesellschaft, die Zizek als Rituale der christlichen
Ethik identifiziert: Solidarität, Nächstenliebe und Vergebung
sind notwendige Phantasmen, ohne die die Realität unerträglich
wäre. Von Hollywood zu Kierkegaard, vom Kapitalismus zur
Handcreme seiner Frau, von Fidel Castro zu ihm selbst
ist es für Zizek immer nur ein kleiner Schritt. Die Archetypen
unserer Kulturen, der hohen wie der niederen, beflügeln
sich gegenseitig mehr, als wir annehmen, als Phantasmen
halten sie eine Wunschökonomie aufrecht, ohne deren Struktur
wir wohl verloren wären.
A.
Geiger
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