Stuttgarter unikurier
Nr. 87 April 2001 |
Vierte Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung:
„Vorrang
der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?“ |
Seit
vier Jahren laden die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus
und die Universität Stuttgart in Erinnerung an den ersten
Bundespräsidenten zur öffentlichen Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung
ein. Zum Thema „Vorrang der Verfassung oder Souveränität
des Parlaments?“ sprach am 11. Dezember 2000 die Präsidentin
des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Jutta Limbach.
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Zur
Begrüßung der Gäste im Hörsaal 17.01 hatte Uni-Rektor
Prof. Dr. Dieter Fritsch eine aktuelle Nachricht: Das
Bundesverfassungsgericht bleibt in Karlsruhe. Und wie
Gabriele Müller-Trimbusch, Vorstandsvorsitzende der Theodor-Heuss-Haus-Stiftung
und Bürgermeisterin der Stadt Stuttgart, freute er sich,
Jutta Limbach begrüßen zu können, die „tief in eine traditionelle
Männerdomäne vorgedrungen ist“. In Deutschland gilt das
Konzept vom Vorrang der Verfassung als höchste Autorität
und somit auch, wie die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts
vorsichtig umformulierte, der Nachrang des Gesetzes. In
England dagegen hat das Parlament das Recht, Recht zu
erlassen. Seine Gesetze können nicht außer Kraft gesetzt
werden, und es kann somit machen, was es will, „nur nicht
aus einem Mann eine Frau oder einer Frau einen Mann“,
schränkte Limbach dessen Herrschaft ein.
Jutta
Limbach (Foto: Eppler) |
Entscheidungen
bindend
Das Bundesverfassungsgericht, an dem Theodor Heuss viel
gelegen war, wurde als ein allen anderen Verfassungsorganen
gegenüber selbständiger Gerichtshof des Bundes am 7. September
1951 in Karlsruhe errichtet. Seine Entscheidungen binden
alle anderen staatlichen Organe, auch den Bundestag. Jutta
Limbach machte dies an einem Beispiel aus dem Jahr 1957
deutlich. Der Bundestag hatte das Familienrecht neu gestaltet.
Beiden Ehepartnern sprach das Gleichberechtigungsgesetz
nun die elterliche Sorge zu, bei Streitigkeiten hatte
jedoch der Vater das letzte Wort. Vier Frauen legten Beschwerde
ein, und ein Jahr nach Inkrafttreten wurde das Gesetz
durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben, das in
seinem Urteil die Gleichberechtigung von Frau und Mann
hervorhob. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich somit
über ein Gesetz hinweggesetzt, obwohl es nicht vom Volk
gewählt wird, und so kam Jutta Limbach zu der Frage, ob
diese Normenkontrolle nicht eigentlich zutiefst undemokratisch
sei, zumal die Vorrangigkeit des Verfassungsgerichts kein
selbstverständliches Element einer Demokratie ist, wie
an den Beispielen Großbritannien oder den Niederlanden
zu sehen. Deutschland hat jedoch eine andere Geschichte
und aufgrund dieser auch Grundrechte, die „gegen Diktatur
und Mißachtung der Menschenrechte sind und daher eine
Großtat“, so die Juristin.
Grundgesetz
als Maßstab
Für die Richter des Bundesverfassungsgerichts, das sich
zwar gegen alle anderen staatlichen Autoritäten durchsetzen
kann, jedoch nur auf eine Anfrage hin Verfassungsfragen
beantwortet, ist der Maßstab die Verfassung - das Grundgesetz
- und nicht die öffentliche Meinung. Geht es um ein Grundgesetz,
so haben die Richter dem Allgemeinwillen zu trotzen und
müssen durchaus auch unpopuläre Entscheidungen treffen.
„Eventuell ein Grund, weshalb die Politiker dem Bundesverfassungsgericht
oft diese Entscheidungen überlassen?“, so dessen Präsidentin.
Ein Organ des Rechts, nicht der Politik, ist das Bundesverfassungsgericht,
auch wenn seine Entscheidungen Auswirkungen auf die Politik
haben, stellte Jutta Limbach klar. Wahlen wie die Politiker
kennen dessen Richter nicht, und „das ist auch gut so“.
Das Grundgesetz enthält wesentliche Prinzipien unserer
Demokratie, die jedoch konkretisiert werden müssen und
auch zeitabhängig sind wie beispielsweise die Fragen:
Was ist Ehe? Was ist Familie? Die Offenheit des Grundgesetzes,
das somit immer neu definierbar bleibt, sei daher kein
Mangel, „ganz im Gegenteil, die Verfassung ist als lebendes
Instrument zu begreifen.“
Originelle
Instanz
Jutta Limbach bezeichnete zusammenfassend das Bundesverfassungsgericht
als die originellste und interessanteste Instanz des Deutschen
Verfassungswesens. Daher habe es auch als in der Welt
vielfach angewandtes Modell Schule gemacht. Besonders
in jungen Demokratien sei es als Garant politischer Normen
in Erscheinung getreten und daher durchaus mit der Demokratie
vereinbar.
J. Alber
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