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Stuttgarter unikurier Nr. 87 April 2001
Abschiedsvorlesung von Hermann Schnabl:
Evolution von Wissen und Wahrheit
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Daß Wissen evolviert, sich im Zeitablauf verändert, ist ein Allgemeinplatz. Beim Stichwort „Wahrheit“ sträubt sich jedoch unsere Vorstellung, die Sichtweise einer sich „entwickelnden“ Wahrheit zu akzeptieren. Mit zwei Bildern sensibilisierte Prof. Dr. Hermann Schnabl von der Abteilung Mikroökonomik am Institut für Volkswirtschaftslehre und Recht bei seiner Abschiedsvorlesung im Februar letzten Jahres die Zuhörer: Mit einer Darstellung des Menschen am Rande der Erdscheibe und einer Aufnahme des Globus vom Weltall aus verdeutlichte er den Wandel der Auffassung von der Welt. Könnte es sich mit anderen „Wahrheiten“ ähnlich verhalten? Über verschiedene Formen der Wissensgewinnung kam Hermann Schnabl zur Definition eines „Fakts“ als eines besonders gut abgesicherten Wissenselementes und zur Vorstellung einer „Wahrheit“, die er als Korrespondenz- sowie Konsens-Wahrheit definieren zu können glaubt. Das Wahrheitsattribut der Korrespondenzwahrheit bezieht sich dabei auf das Postulat einer Übereinstimmung zwischen der Realität und der Modellwelt und zeigt sich damit als Konzept der klassischen Philosophie, die ihre Wurzeln in der „Idee“ Platons haben dürfte. Er kontrastierte damit den Begriff der Konsens-Wahrheit, der eher zum modernen Konstruktivismus zu passen scheint. Diese sieht die „Welt“ als Ergebnis einer Rekonstruktion, die demgegenüber die Objektwelt in den Hintergrund treten läßt. Prof. Schnabl plädierte für eine Metasicht, die das Postulat einer Objektwelt mit der stark subjektbezogenen Sicht des Konstruktivisten dadurch versöhnt, daß sie die Reichweite der Erkenntnisfähigkeit relativiert, indem sie den Erkenntnisprozeß selbst zum Bestandteil der Erkenntnis macht, ohne dabei die Existenz der Objektwelt in Frage zu stellen. Er zeigte dieses Vorgehen am Modell eines Neuronalen Modells, dessen Potentiale zur Entdeckung von Zusammenhängen in der Objektwelt kontrastiert werden mit den Defiziten dieser Netze (unter anderem Unvollständigkeit, Existenz von Mehrdeutigkeiten und deshalb „Parallelwahrheiten“), die ebenso im Wissenschaftsprozeß erkennbar werden. Er plädierte außerdem dafür, das Neuronale Netz als Analogon des Wissenschaftsprozesses zu nehmen und die damit ableitbaren Potentiale und Einschränkungen im Sinne der oben angesprochenen Metasicht für eine Synthese der klassischen Ontologie und des Konstruktivismus zu verwenden. Daraus entwickelte er eine erweiterte Sicht wissenschaftlicher Ergebnisse, die alternative Theorieansätze nebeneinander ermöglicht, ohne sofort das Konzept eines anhaltenden Wettbewerbs um eine bessere „Korrespondenz-Wahrheit“ aufzugeben. Insbesondere scheint dieser Ansatz geeignet, das Verständnis für den Prozeß der Erkenntnisgewinnung zu steigern. Danach sind Paralleltheorien kein Unglück und insbesondere kein Anlaß, das Problem des Nicht-Konsenses im Sinne eines „Religionskrieges“ zu lösen. Die Heterogenität der Theorien wird sich wegen der Heterogenität ihres Entstehungszusammenhangs nicht eliminieren lassen. Hingegen schade - so Schnabl - die Herbeiführung eines Konsenses durch Bildung von „Schulen“ der Effizienz des Wissenschaftsprozesses für die Gewinnung möglichst großer „Korrespondenz“. Hieraus lassen sich Forderungen für die Institutionalisierung des Wissenschaftsprozesses ableiten. Hermann Schnabl nannte hier unter anderem die Reservierung von zehn Prozent aller Drittmittel zur Forschungsförderung für „Nicht-Mainstream-Anträge“ sowie die Einführung eines „Double-Blind“-Referee-Verfahrens für Publikationen. An vorderster Stelle sieht Prof. Schnabl jedoch den Appell zur Toleranz gegenüber alternativen Theorieansätzen, da man aufgrund der (oben abgeleiteten) Defizite des Wissenschaftsprozesses niemals sicher sein könne, daß der jeweils eigene Ansatz „die“ Wahrheit darstelle. Dies könne nur im Zuge eines fortgesetzten Wettbewerbs um die bessere Korrespondenzqualität entschieden werden - wie schon von Popper formuliert -, ohne daß endgültige Sicherheit darüber erreicht werden könne. Der Dekan der Fakultät Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Prof. Dr. Siegfried Franke, würdigte bei dieser Gelegenheit Schnabls breit angelegte Lehr- und Forschungsinteressen: Arbeitsmarkt, Wettbewerbsordnung, Finanzwissenschaft, Innovationsforschung und vor allem die input-output-Analyse. Er habe bei seiner Arbeit stets den Menschen in seinen vielfältigen sozialen Bezügen im Auge gehabt, betonte Franke: „Fachliche Kompetenz ging einher mit ehrlicher Kollegialität, mit Engagement in der Sache, Bescheidenheit und einem stets offenen Ohr für die Studierenden“.

 


last change: 27.04.01 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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