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Stuttgarter unikurier Nr. 87 April 2001
Werkstoffe für die Energietechnik:
Gegen den Zahn der Zeit
 

Selbst einfache Vorgänge in unserem täglichen Leben sind von der Energieversorgung sowie den damit verbundenen technischen Prozessen und Anlagen abhängig. Die Tatsache, daß eine technische Anlage über Jahre hinweg ohne Ausfälle „funktioniert“, wird dabei selten gewürdigt beziehunsgweise schlicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Die Leistung der Ingenieure besteht aber gerade darin, die Beanspruchungen von Bauteilen vorauszusehen und in der Auslegung und Konstruktion umzusetzen. Dies gilt auch für den Einsatz der hohen Beanspruchungen ausgesetzten Werkstoffe für die Energietechnik.

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Auch Werkstoffe altern ...
Das Wort des Philosophen Heraklit „Alles fließt“ gilt sowohl im übertragenen als auch im bildlichen Sinne für Werkstoffe: sie sind einem natürlichen Alterungsprozeß unterworfen und ändern unter Belastung ihre Form und Struktur. Nahezu alle Werkstoffe des Ingenieurs, mit Ausnahme von Holz und Stein, kommen als solche in der Natur nicht vor. Metallische Werkstoffe werden aus in der Natur vorkommenden Stoffen über aufwendige Prozesse gewonnen. Sie werden dabei in einen „edleren“ Zustand überführt und streben daher - verstärkt unter dem Einfluß der Umgebung - ihren ursprünglichen Zustand wieder an, wie jeder am Beispiel seines Autos erkennen kann: Stahl beziehungsweise Eisen rostet und wird wieder zu Eisenoxid, aus dem es gewonnen wurde. Vorgänge dieser Art waren und sind für den Werkstoffingenieur eine ständige Herausforderung, der er mit der Entwicklung entsprechender Werkstofflegierungen bzw. Werkstoffsysteme zu begegnen sucht. Dazu gehört ein tiefgehendes Verständnis der thermodynamischen, physikalischen und chemischen Vorgänge in der Mikrostruktur der Werkstoffe.

... und kriechen
Besonders im Bereich der Energietechnik wurde der Ingenieur sehr rasch mit dem Problem konfrontiert, daß die sichere Umschließung von Prozessen beanspruchungsangepaßte Werkstoffe bedarf. Inwieweit ein Werkstoff einer äußeren Last, z. B. dem Innendruck in einem Druckbehälter, standhält, hängt wesentlich von den Materialeigenschaften ab. Bei nicht ausreichender Zähigkeit führen lokale Spannungsspitzen zum spröden Bruch („Bruch vor Leck“). Eine ausreichende „Zähigkeit“ muß dazu über die Dauer des Betriebes anhalten, darf nicht von Alterungsvorgängen nachteilig beeinflusst werden. Ansonsten muß die Betriebszeit entsprechend eingeschränkt werden. Über die abgesicherte, ausreichend hohe Zähigkeit wird die sogenannte Basissicherheit definiert, die sichergestellt, daß instabiles Rißverhalten („Bruch vor Leck“) nicht auftritt. Ein Bauteil kann aber auch dann versagen, wenn die Belastung über die bekannten Beanspruchungsbedingungen hinausgeht. Hier tritt der sogenannte „Leck vor Bruch“-Modus auf, der durch ein stabiles Rißwachstum gekennzeichnet ist. Dieser Modus trifft uneingeschränkt nur bei niedrigen Temperaturen zu, wo plastische Verformungen ausschließlich bei Streckgrenzenüberschreitungen auftreten. Im sogenannten Hochtemperaturbereich oder Kriechbereich kann das Prinzip der „Basissicherheit“ allein auf der Grundlage einer ausreichenden Zähigkeit nicht bestimmt werden. Hier finden bereits unterhalb der Warmstreckgrenze zeitabhängige Verformungsvorgänge statt, die nicht, wie bei niederen Temperaturen, von vorhandenen Verfestigungsvorgängen begrenzt werden. Unter der Wirkung der äußeren Last „kriecht“ der Werkstoff, was zum Beispiel bei Turbinenschaufeln zur Folge haben kann, daß diese am Gehäuse anstreifen. Darüber hinaus stellen sich lokale Schädigungen ein: an den Korngrenzen bilden sich Poren, die sich zu Mikrorissen vereinigen und weite Bereiche des Bauteils erfassen können, so daß aufgrund dieser Werkstoffschwächung ein spontanes katastrophales Versagen eintreten kann. Diese Vorgänge ziehen sich in realen Kraftwerksbauteilen über sehr lange Zeiträume, d. h. bis über die Auslegungszeit von rund 23 Jahren beziehunsgweise 200.000 Betriebsstunden hinweg. An die quantitative und qualitative Beurteilung dieser Schädigungsvorgänge als Grundlage einer sicheren und wirtschaftlichen Auslegung sind daher hohe Anforderungen gestellt. Die Wirkungsgradsteigerung von Kraftwerken wird wesentlich von den Parametern Druck und Temperatur beeinflußt, zwei Größen, die wesentliche Elemente der „Werkstoffleidensgeschichte“ sind. Erfolgreiche Werkstoffentwicklung in Verbindung mit optimierter Werkstoffprüfung, das Verständnis über die Schadensmechanismen und die quantitative Erfassung des Werkstoffverhaltens und -versagens bilden daher die Grundlage der modernen Kraftwerkstechnik.

KONTAKT
Dr.-Ing. K. Maile, Staatliche Materialprüfanstalt (MPA), Tel: 0711/685-3059

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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