Auch
Werkstoffe altern ...
Das
Wort des Philosophen Heraklit „Alles fließt“ gilt sowohl
im übertragenen als auch im bildlichen Sinne für Werkstoffe:
sie sind einem natürlichen Alterungsprozeß unterworfen
und ändern unter Belastung ihre Form und Struktur. Nahezu
alle Werkstoffe des Ingenieurs, mit Ausnahme von Holz
und Stein, kommen als solche in der Natur nicht vor. Metallische
Werkstoffe werden aus in der Natur vorkommenden Stoffen
über aufwendige Prozesse gewonnen. Sie werden dabei in
einen „edleren“ Zustand überführt und streben daher -
verstärkt unter dem Einfluß der Umgebung - ihren ursprünglichen
Zustand wieder an, wie jeder am Beispiel seines Autos
erkennen kann: Stahl beziehungsweise Eisen rostet und
wird wieder zu Eisenoxid, aus dem es gewonnen wurde. Vorgänge
dieser Art waren und sind für den Werkstoffingenieur eine
ständige Herausforderung, der er mit der Entwicklung entsprechender
Werkstofflegierungen bzw. Werkstoffsysteme zu begegnen
sucht. Dazu gehört ein tiefgehendes Verständnis der thermodynamischen,
physikalischen und chemischen Vorgänge in der Mikrostruktur
der Werkstoffe.
...
und kriechen
Besonders
im Bereich der Energietechnik wurde der Ingenieur sehr
rasch mit dem Problem konfrontiert, daß die sichere Umschließung
von Prozessen beanspruchungsangepaßte Werkstoffe bedarf.
Inwieweit ein Werkstoff einer äußeren Last, z. B. dem
Innendruck in einem Druckbehälter, standhält, hängt wesentlich
von den Materialeigenschaften ab. Bei nicht ausreichender
Zähigkeit führen lokale Spannungsspitzen zum spröden Bruch
(„Bruch vor Leck“). Eine ausreichende „Zähigkeit“ muß
dazu über die Dauer des Betriebes anhalten, darf nicht
von Alterungsvorgängen nachteilig beeinflusst werden.
Ansonsten muß die Betriebszeit entsprechend eingeschränkt
werden. Über die abgesicherte, ausreichend hohe Zähigkeit
wird die sogenannte Basissicherheit definiert, die sichergestellt,
daß instabiles Rißverhalten („Bruch vor Leck“) nicht auftritt.
Ein Bauteil kann aber auch dann versagen, wenn die Belastung
über die bekannten Beanspruchungsbedingungen hinausgeht.
Hier tritt der sogenannte „Leck vor Bruch“-Modus auf,
der durch ein stabiles Rißwachstum gekennzeichnet ist.
Dieser Modus trifft uneingeschränkt nur bei niedrigen
Temperaturen zu, wo plastische Verformungen ausschließlich
bei Streckgrenzenüberschreitungen auftreten. Im sogenannten
Hochtemperaturbereich oder Kriechbereich kann das Prinzip
der „Basissicherheit“ allein auf der Grundlage einer ausreichenden
Zähigkeit nicht bestimmt werden. Hier finden bereits unterhalb
der Warmstreckgrenze zeitabhängige Verformungsvorgänge
statt, die nicht, wie bei niederen Temperaturen, von vorhandenen
Verfestigungsvorgängen begrenzt werden. Unter der Wirkung
der äußeren Last „kriecht“ der Werkstoff, was zum Beispiel
bei Turbinenschaufeln zur Folge haben kann, daß diese
am Gehäuse anstreifen. Darüber hinaus stellen sich lokale
Schädigungen ein: an den Korngrenzen bilden sich Poren,
die sich zu Mikrorissen vereinigen und weite Bereiche
des Bauteils erfassen können, so daß aufgrund dieser Werkstoffschwächung
ein spontanes katastrophales Versagen eintreten kann.
Diese Vorgänge ziehen sich in realen Kraftwerksbauteilen
über sehr lange Zeiträume, d. h. bis über die Auslegungszeit
von rund 23 Jahren beziehunsgweise 200.000 Betriebsstunden
hinweg. An die quantitative und qualitative Beurteilung
dieser Schädigungsvorgänge als Grundlage einer sicheren
und wirtschaftlichen Auslegung sind daher hohe Anforderungen
gestellt. Die Wirkungsgradsteigerung von Kraftwerken wird
wesentlich von den Parametern Druck und Temperatur beeinflußt,
zwei Größen, die wesentliche Elemente der „Werkstoffleidensgeschichte“
sind. Erfolgreiche Werkstoffentwicklung in Verbindung
mit optimierter Werkstoffprüfung, das Verständnis über
die Schadensmechanismen und die quantitative Erfassung
des Werkstoffverhaltens und -versagens bilden daher die
Grundlage der modernen Kraftwerkstechnik.
KONTAKT
Dr.-Ing. K. Maile, Staatliche Materialprüfanstalt (MPA),
Tel: 0711/685-3059